„Goschen halten!“

ROT-GRÜN-ORANGE Eine neue Kraft in der Politik

VON MARTIN KAUL

BERLIN taz | An einem herbstnassen Oktoberabend erinnert sich Hannelore Kraft an einen Satz von Piraten-Chef Bernd Schlömer. Der hatte Anfang August gesagt: „Die Piraten sind zu einer themenorientierten Zusammenarbeit in Form einer Duldung bereit.“ Von Rot-Grün wohlgemerkt. Das hatte zwar weder in der Öffentlichkeit noch in seiner Partei besonders nennenswerte Resonanz ausgelöst, aber jetzt sieht Hannelore Kraft Potenzial, in die Geschichte einzugehen.

Warum sollte nicht auch in Berlin gehen, was in Düsseldorf möglich war, fragte sich Kraft, die bei ihrer ersten Wahl zur Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Minderheitsregierung angeführt hatte.

Diesmal sollen die Piraten also die tolerierende Fraktion sein. Die sitzen überraschend im Bundestag. Da hatten die kritischen Stimmen wohl doch recht, die vor der Wahl vor ungenauen Umfragen gewarnt hatten: 5,01 Prozent der Wählerstimmen haben gerade noch so für den Einzug ins Parlament gereicht.

Die SPD-Führung hat das in den letzten Wochen erst mal nicht weiter tangiert. Parteichef Sigmar Gabriel hatte andere Sorgen. Nächtelang musste er mit Angela Merkel über eine Neuauflage der Großen Koalition verhandeln. Doch je länger sich die Gespräche hinzogen, desto massiver geriet die SPD-Führung unter Druck – von der eigenen Basis aus Nordrhein-Westfalen.

Die SPD-Genossen an Rhein und Ruhr, die mit ihrem Zugpferd Hannelore Kraft bei den Wahlen Rekordergebnisse eingefahren haben, meutern gegen die Männer-Trias aus Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel. Sie fordern jetzt, was viele Sozialdemokraten sich schon früher gewünscht haben: Mit Kraft an die Spitze! Nach einer siebzehnstündigen Sitzung im Willy-Brandt-Haus gibt Gabriel – abgekämpft, angepisst – auf.

Jetzt ist Kraft am Zug. Und Grünen-Turbo Jürgen Trittin zieht mit.

Die Piraten, denen manches egal ist und in anderen Dingen die Positionen fehlen, sind geschmeichelt. Sie setzen ein bedingungsloses Nein zur Vorratsdatenspeicherung voraus, aber geloben, Rot-Grün zu dulden. Dafür erhalten sie Mitspracherecht bei der Neubesetzung im Amt des Bundesdatenschutzbeauftragten, die Ende 2013 ansteht. Piraten-Mitglied Udo Vetter, Rechtsanwalt und so eine Art Piraten-Papst, wird dazu heiß gehandelt.

In anderen Positionen sieht die Piraten-Partei durchaus Anknüpfungspunkte zu Rot-Grün. In den Fachausschüssen wollen sie mit Sozialdemokraten und Grünen an einer Stärkung des Informationsfreiheitsgesetzes arbeiten. Eine Reform der Geheimdienstkontrolle steht ebenso auf der rot-grün-orange Agenda wie die Besserstellung homosexueller Lebenspartnerschaften.

Eins allerdings mussten die Piraten, für die der Bundestag noch Neuland ist, den alten Polithasen der Regierungskoalition versprechen: „Wenn es ernst wird, haltet ihr die Goschen!“

Das finden natürlich alle Piraten, die nicht in der Bundestagsfraktion sitzen, ziemlich scheiße. Und so beginnt ein waghalsiges Abenteuer. In einschlägigen Internetforen wird heftig diskutiert, wie lange das wohl gut gehen wird.