„Wir müssen hier raus / das ist die Hölle“

SCHERBEN Die Gasag spendiert Rio Reiser eine Gedenktafel. Immerhin riecht es bei der Ehrung nach Shit

Als ich am Tempelhofer Ufer ankam, fuhr gerade ein schicker schwarzer Mercedes weg und schnitt dabei einen Lieferwagen. Der hupte, woraufhin der Mann im Mercedes – bestimmt Udo Lindenberg, Blixa Bargeld, vielleicht auch Grönemeyer – dem Lieferwagenfahrer den Finger zeigte. Am Rand der Szene roch es nach Haschisch als Reminiszenz an den berühmten „Shit-Hit“ von Ton Steine Scherben.

Im Haus Tempelhofer Ufer 32 hatten die Scherben zwischen 1971 und 1975 gelebt, hier wurde am Dienstag eine Gedenktafel für Rio Reiser enthüllt. Anlässlich seines 17. Todestages hatte die BVV Friedrichshain-Kreuzberg eine Ehrung beschlossen, das Sponsoring für die Porzellantafel übernahm die Gasag.

Über hundert Menschen verfolgten die feierliche Enthüllung, darunter Mitstreiter von früher wie Reisers Bruder Gert Möbius, R. P. S. Lanrue und Kai Sichtermann von den Scherben, Prominente wie Gregor Gysi und Bewohner des Hauses, die empört zu bedenken gaben, der heutige Besitzer sei ein Gentrifizierer.

Schließlich hatten Rio Reiser und die Scherben auch den Soundtrack zur Häuserbesetzungsszene der frühen 80er Jahre geliefert. Gassenhauer wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ und der „Rauch-Haus-Song“ wurden auf unendlich vielen Demos gespielt. Später war Reiser als Solosänger mit „König von Deutschland“ und „Junimond“ über die Szene hinaus berühmt. Mit 46 Jahren starb er in Schleswig-Holstein, vor zwei Jahren wurde sein Sarg nach Berlin umgebettet. Seitdem liegt er auf dem Matthäus-Kirchhof an der Monumentenstraße.

Björn Böhning freut sich

Bei der Ehrung am Dienstag wurden Reisers Verdienste in mehreren Reden gewürdigt. Staatssekretär Björn Böhning (SPD) „freute sich besonders“. Ob Reiser tatsächlich „im popkulturellen Mainstream des Kontinents angekommen ist“, darf aber bezweifelt werden, und zu Zeiten der ersten TSS-Platten hätte sich die Band sicher eher als revolutionär oder linksradikal gelabelt. Interessanterweise wurde der „Rauch-Haus-Song“ auch im Istanbuler Gezi-Park gespielt.

Das „acapellaplenum“ sang eine leicht aktualisierte Version von „Keine Macht für Niemand“. Am Rande saß eine Cannabis-Aktivistin, die mit 13 alle Scherben-Songs auswendig konnte. Auf dem Rückweg spielte im Kopf ein TSS-Song, mit dem ich mich als Schüler auch immer gern agitiert hatte. „Wir müssen hier raus / das ist die Hölle / wir leben im Zuchthaus“. DETLEF KUHLBRODT