Reiches Hamburg, arme Kinder

Innerhalb eines halben Jahres wächst die Zahl der von Armut betroffenen Hamburger Kinder um 3.000. Fast ein Viertel aller Kinder in der Hansestadt lebt mittlerweile von Hartz IV. Horrorzahlen auch aus Bremerhaven, Flensburg und Kiel

Als im Herbst bekannt wurde, dass ausgerechnet im reichen Hamburg jedes fünfte Kind (20 Prozent) in Armut lebt, war die Betroffenheit scheinbar groß. Bürgermeister Ole von Beust (CDU) versprach, mehr für die sozial Schwachen zu tun. Doch der Trend geht weiter bergab. Das belegen Zahlen, die der Paritätische Wohlfahrtsverband Hamburg gestern auf einer Fachtagung „Kinder und Hartz IV“ offerierte. Lebten im August 2005 noch 46.753 Kinder unter 15 Jahren von Hartz IV oder vergleichbar wenig Geld, so waren es im Januar bereits 49.800 (21,9 Prozent) und damit über 3.000 mehr.

„Wir haben eine Dynamik im unteren Einkommensbereich, die dazu führt, dass in den Großstädten das Problem sehr stark ist“, erklärt Dr. Rudolf Martens, der für den Paritätischen Wohlfahrtsverband diese Zahlen eruierte. Deutlich werde, dass die Kinder die „Verlierer“ der Hartz IV-Reform seien. Lebten 2003 bundesweit noch eine Million Kinder von Sozialhilfe, so seien inzwischen 1,7 Million Kinder Bezieher von „Sozialgeld“. Das aber kenne im Unterschied zur alten Stütze keine „besonderen Bedarfe“ mehr wie die Anschaffung von Schulranzen oder Kleidung. Von 207 Euro Pauschale muss für ein Kind alles angeschafft werden, vom täglichen Essen über Schulhefte bis hin zur Kleidung, die, da Kinder ja wachsen, ein besonders großer Posten ist.

„Ein abgeschabter Ranzen der dritten Generation, eine mit Tinte verfleckte Federtasche und durchgelatschte Turnschuhe sind nicht das, was ein Kind zum Schulstart motiviert“, erklärt auch Verbandsgeschäftsführer Ulrich Schneider. Er fordert neben einer Anhebung der Regelsätze um 19 Prozent die Wiedereinführung der einmaligen Leistungen.

Von einer „dramatischen Entwicklung“ sprach auch Wolfgang Hammer von der Hamburger Sozialbehörde. Er nannte gar noch höhere Zahlen als der Paritätische Wohlfahrtsverband. Nach seinen Angaben leben in Hamburg 51.314 Kinder von Sozialgeld, was 22,6 Prozent ausmache. Im westdeutschen Durchschnitt seien nur 12,7 Prozent der Kinder betroffen. Hammer bezog sich auf eine Auswertung des „Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe“ vom 3. März. Dieses hatte nicht die frischen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, sondern die nach drei Monaten nochmal revidierten Zahlen aus Oktober 2005 mit den Bevölkerungszahlen von 2004 verglichen. Trauriger Spitzenreiter im Norden ist demnach übrigens Bremerhaven mit 38,6 Prozent Kindern, die von Sozialgeld leben, gefolgt von Städten wie Schwerin (38,4 Prozent), Kiel (32,1 Prozent), Flensburg (30,0 Prozent) und Bremen (28,4 Prozent).

Die Vortragenden der Fachtagung waren sich einig, dass der Schlüssel zum Durchbrechen dieser Armutsentwicklung in der Bildung liegt. Die Sozialwissenschaftlerin Ursel Becher rechnete vor, dass 46 Prozent aller Hamburger Schulabgänger keinen oder nur Hauptschulabschluss haben und somit kaum eine Chance auf Ausbildung.

Optimistisch stimmte da am Ende der Vortrag vom Chef des Hamburger Kinderschutzbundes, Wulf Rauer. Der Erziehungswissenschaftler hatte den „Datenschatz“ der Hamburger Grundschulstudie „Kess 4“ durchforstet, für die 2003 der ganze Jahrgang der Viertklässler getestet wurde. Die Forscher befragten die Eltern auch nach Einkommen und Dienstgrad, Migrationshintergrund, Zahl der Bücher im Schrank und ob sie denn die Freunde ihres Kindes kennten. Rauers verblüffende Erkenntnis: den größten Einfluss auf den schulischen Erfolg hat das „soziale Kapital“ der Eltern. Kennen sie die Freunde der Kinder und lassen es selten allein, so ist auch die Schulleistung besser. Ein Punkt, an dem die Jugendhilfe ansetzen könne. Kaija Kutter