Nach der Euphorie

Ja, Rock ist reaktionär. Trotzdem erfreut er sich weitgehend ungebrochener Beliebtheit. Und steht überraschenderweise nicht nur bei Alt, sondern auch Jung immer noch hoch im Kurs. Zum Beweis treten an: Slut und Big Skies. Altgediente Haudegen die einen, kaum aus den Windeln die anderen.

Big Skies nennen ihre Band selbst einen Kindheitstraum, den sie in einem Pub im Süden von London gegründet haben. Seit dem Umzug nach Berlin hat sich dieser Traum konkretisiert in Rockmusik, die keine Angst vor raumgreifenden Gesten hat und nun erstmals auf der EP „Big Skies“ dokumentiert wird. Vier Songs nur, aber mit solch mächtigen Melodien, so viel Hall auf der Stimme, donnerndem Schlagzeug und Gitarren im Breitwandsound, dass man sich nach dem Hören wie durchgemangelt fühlt. Big Skies frischen nicht nur altbekannte Klischees auf, sie glauben so ungebrochen an die Kraft der Rockmusik, dass ihre Euphorie durch jedes grandiose Gitarrenriff und jeder satt wummernden Bassline zu hören ist. Doch: Zumindest diese vier Songs lang klingt der Rock plötzlich nicht mehr wie ein Auslaufmodell, sondern wie ein großer Aufbruch in eine aufregende Zukunft – auch wenn die vielleicht nur eine Nacht dauert.

Dass nach dieser Nacht der Kater unvermeidlich ist, das wissen Big Skies noch nicht, Slut dafür schon umso länger. Seit 1994 gibt es die bayerische Band, die ihr neues Album „Alienation“ zum großen Teil in Berliner Studios aufgenommen hat, angeleitet von einer ganzen Riege angesagter deutscher Produzenten von Olaf O.P.A.L. bis Tobias Levin. „We wrote a hundred love songs and poems all those years, we sang about our hopes and our fears“, singt Christian Neuburger, als wäre dieses siebte Album ein Abgesang, ein Karriereschlusspunkt. So klingt „Alienation“ auch: Slut scheinen ihre Bandgeschichte zu rekapitulieren und noch einmal alles vorführen zu wollen, was sie können. Aber ob knackiger Gitarrenrock wie in „Next Big Thing“, entspannte Gitarrenpopsongs wie „All Show“, psychedelisches Wimmern wie im „Silk Road Blues“ oder weihevolle Düsternis in „Idiot Dancers“: So wundervoll begeistert von sich selbst wie Big Skies klingen Slut niemals, stattdessen entwickeln sie eine Qualität: Trotz ihres gewaltigen Detailreichtums scheinen die Songs von Slut stets auf dem Sprung zu etwas noch Größerem zu sein. Diese Ungewissheit verschafft der Rockmusik neue Spannung, wenn die erste Euphorie erst einmal verflogen ist.

THOMAS WINKLER

■ Big Skies: „Big Skies“ (digital) ■ Slut: „Alienation“ (Cargo Records)