„Speck von gestreichelten Schweinen“

ANTICHIC Die Verlegerin Angelika Taschen hat ein Buch über den Stil der Hauptstadt geschrieben. Im Gespräch erzählt sie, warum sie Berlin Paris vorzieht, was Blogger damit zu tun haben und welche Rolle das Essen spielt

Die Verlegerin Angelika Taschen hat bereits über 150 Bücher zu Design, Mode, Kunst, Fotografie und Architektur herausgegeben. Seit neun Jahren lebt sie in Berlin. Gemeinsam mit der Journalistin Alexa von Heyden und der Modefotografin Sandra Semburg hat Taschen an dem Buch „Der Berliner Stil“ gearbeitet, das gerade bei Knesebeck erschienen ist. Darin verrät sie Modetipps sowie Insider-Adressen für tollen Schmuck und gutes Steinofenbrot.

■ Angelika Taschen, Alexa von Heyden, Sandra Semburg: „Der Berliner Stil“. Knesebeck, München 2013, 240 Seiten, 24,95 €

INTERVIEW BRIGITTE WERNEBURG

taz: Frau Taschen, gerade ist Ihr Buch „Der Berliner Stil“ erschienen. Warum überhaupt braucht es ein solches Buch?

Angelika Taschen: Ich lebe jetzt seit über neun Jahren in Berlin und finde, erst seit Kurzem bildet sich etwas heraus, von dem ich sagen würde, das ist ein spezifischer Stil, eine eigene Sprache und neuer Lebensstil. Vor fünf Jahren war das noch nicht so klar. Es braucht auch Zeit, bis sich ein Stil bestätigt und sichtbar wird, dass es sich nicht nur um eine Eintagsfliege handelt.

Es handelt sich also um ein noch ganz junges Phänomen?

Ja. Theoretisch hat es mit dem Fall der Mauer begonnen. Praktisch realisiert es sich aber erst seit relativ kurzer Zeit. Die Welt hat sich im Allgemeinen extrem verändert. Berlin ist da ein toller Platz, weil die Stadt noch nicht so verkrustet ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sie komplett neu aufgebaut werden und nach dem Mauerfall musste sich Berlin wieder neu erfinden. Das hat auch zu einer Offenheit für neue Lebensmodelle geführt. Paris beispielsweise ist viel verkrusteter, gesellschaftlich, architektonisch, historisch, auf allen Ebenen. Viele große Städte können sich gar nicht so schnell für neue Strömungen öffnen. Aber Berlin war nach 1989 eine Art Labor, besonders der frühere Osten, in dem sich etwas entwickeln konnte, das mit dem 21. Jahrhundert und speziell unserer Lebensweise zu tun hat, die durch das Internet und die Globalisierung radikal geprägt ist.

Findet sich der Berliner Stil in Ihrem Buch deshalb vor allem im Osten? In Mitte und im Prenzlauer Berg?

Ja. Dort finde ich die speziellen, individuellen und deshalb typischen Berliner Sachen. Der Ku’damm beispielsweise – ich bin froh, dass er sich erholt und weiterentwickelt hat – gehört nun definitiv zu dem, was eine Weltstadt ausmacht. Aber einen Hermès-Laden oder einen Prada Shop, das finden Sie in jeder großen Stadt. Was hier alles in Mitte entstanden ist, das ist noch mal was ganz anderes.

Was zeichnet den Berliner Stil denn aus?

Ich nenne es den Antichic. Er ist nicht sehr bürgerlich. Man versucht sich nicht mit Logo-Schals und Logo-Gürteln einer Gesellschaftsklasse zuzuschreiben. Der Stil ist offener, die Improvisation spielt eine große Rolle. So wie die Stadt nur aus Baustellen besteht, zumindest gefühlt. Es wird viel selbst gemacht, und es ist meist simpel und schlicht, denn es kommt auf die Ideen an. Gerade auf dem Weg hierher habe ich eine Frau auf dem Fahrrad gesehen, die trug ein einfaches weißes Herrenhemd, eine blaue Röhrenjeans und Missoni Chucks. Das sah cool aus, ohne viel Aufwand. Und dazu kommt: Berlin hat viele Blogger. Die Stadt lässt sich mehr über die Mode-Blogs inspirieren als über die neueste Werbekampagne von den großen Modekonzernen. In München oder Hamburg wird noch eher in die traditionellere Richtung geguckt.

Warum leben Sie eigentlich in Berlin und nicht woanders?

Für mich ist Berlin im Moment wirklich die spannendste Stadt, die ich kenne. Und man trifft hier ja alle Welt. Gestern habe ich Ambra Medda getroffen, die Gründerin der Design Miami Art Basel, die in New York lebt. Sie lässt ihre Website hier von Berlin aus machen. Es ist sehr international hier, und ich mag einfach Städte, wo sich was bewegt. Die Stadt ist zwar nicht perfekt, aber sie stagniert nicht. Deshalb musste ich auch an Nam June Paik und sein „Wenn too perfect, lieber Gott böse“ denken. Gott hat wenig Grund, Berlin böse zu sein. Zudem gab es den weltweit ersten Pop-up-Store in Berlin. Ich habe damals noch in Los Angeles gelebt und las auf der Seite eins der New York Times davon. Comme des Garcons hatte in der damals noch völlig runtergekommenen Brunnenstraße aufgemacht, ein Signal für die Stadt und auch für Mitte. Da dachte ich, ich will nach Berlin.

„Man versucht sich nicht mit Logo-Gürteln einer Klasse zuzuschreiben“

Den Umzug haben Sie nicht bereut?

Nein. Ich liebe es zum Beispiel, wenn ich zwei Wochen weg war, mich auf mein Fahrrad zu setzen und gleich wieder auf irgendeinen neuen, tollen Laden oder Restaurant zu stoßen. Ich mag auch diese Idee von Slow Food, dass die Leute Bioprodukte lieben und regional und saisonal großgeschrieben werden.

Könnte Berlin die heimliche internationale Hauptstadt der Nachhaltigkeit werden?

Das könnte funktionieren. Allein wie viele tolle Bäckereien ich kenne! Nicht diese Ketten, wo mit irgendwelchen Chemiestoffen die Brote auf die Schnelle gebacken werden. Sondern Backstuben, wo Sauerteig angerührt wird, der dann ein paar Tage gärt, bevor das Brot im Steinofen gebacken wird. Oder wenn ich an die Kantine der Markthalle Neun denke. Da wird mit krummem Gemüse gekocht und hauptsächlich mit Produkten aus Brandenburg, wie Speck von gestreichelten Schweinen. Es hängen Fotos, auf denen man sehen kann, wie die Schweine in der Natur leben. Den ess ich lieber als anderen Speck.