Die Angst vor der Pest

MEDIZINGESCHICHTE Das Wissen des Arztes wird am Krankenbett gebildet: eine gelungene Ausstellung zu 300 Jahren Charité

Mit der Perforierzange wurden Briefe in Pestzeiten durchlöchert und ausgeräuchert

VON CORD RIECHELMANN

Im Jahre 1709 näherte sich die Pest, aus Nordosteuropa kommend, den Grenzen Preußens. In Erwartung der zu isolierenden Kranken ließ König Friedrich I. daraufhin außerhalb der Stadtmauern Berlins ein Pesthaus errichten. 1710 war es fertiggestellt, wurde aber nicht mehr benötigt, weil die Pest an Berlin vorbeigezogen war. Das deshalb zu seinem eigentlichen Zweck nie genutzte Haus gilt heute als Urbau der Berliner Charité, deren 300-jährige Geschichte jetzt in einer Sonderausstellung im Berliner Medizinhistorische Museum der Charité dokumentiert wird.

Seinen heutigen Namen erhielt das Pesthaus 1727 von Friedrich Wilhelm I., der das Gebäude zu einer Unterrichtsstätte für Militärärzte gemacht hatte. Die Charité wird damit neben Kliniken in Holland und England zu einer Anstalt, in der die bis heute wirkende Revolution in der Medizin an der Wende vom 17. ins 18. Jahrhundert institutionalisiert wird. Ihr neuer Grundsatz lautete: Das Wissen des Arztes wird am Krankenbett gebildet.

Die Patienten kommen bis weit ins 19. Jahrhundert aus den ärmeren Teilen der Bevölkerung: Soldaten, Mittellose, ledige Schwangere und Prostituierte. Die Charité bildete damit ein Scharnier zwischen der mittelalterlichen Armenfürsorge und den Forderungen der modernisierten Ärzteausbildung für die bevorstehenden Schlachten der preußischen Könige.

Die Ausstellung geht auf diese frühe Geschichte der Charité vorbildlich ein. Die Texte – zweisprachig, Englisch und Deutsch – sind sachlich gehalten, fast schon zurückhaltend bescheiden. Das Sensationelle haben sie allerdings auch nicht nötig. Das erledigen die Ausstellungsstücke. Gleich zu Beginn sieht man auf einer runden Glasvitrine eine ausgestopfte Ratte sitzen. Das Tier grüßt, sich erhebend, mit feinen Vorderpfoten. In der Vitrine selbst schnüffelt eine andere Ratte rum, neben einer Wachsmoulage, die einen Handrücken mit einer Pestbeule darauf zeigt. So wird der Glaube illustriert, dass es die Rattenflöhe waren, die die Pest übertrugen. Die Grenzen des damaligen Wissens sind so überall gegenwärtig.

In der Pestvitrine liegt noch eine sogenannten Perforierzange, mit der Briefe in Pestzeiten durchlöchert und dann ausgeräuchert wurden. Damit meinte man eine Übertragung der Krankheit durch Abtöten ihrer Erreger verhindern zu können.

Gehirnerweichung anschaulich

Gleich um die Ecke wartet dann der erste Schock, wie man ihn bei medizinischen Sammlungen erwartet, aber so nicht kannte: Ein von der Syphilis durchlöcherter Schädel. Der Begriff der Hirnerweichung, der bis ins 19. Jahrhundert in Texten um von der Syphilis schwachsinnig gewordenen Patienten auftaucht, wird anschaulich. Offensichtlich konnte man Syphiliserkrankten im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit mit dem blanken Finger die Kopfhaut mitten ins Hirn drücken. Dass darunter dann noch die äußerlichen Symptome der Syphilis an weiblichem und männlichem Geschlechtsorganen gezeigt werden, muss man nicht unbedingt ansehen.

Interessant sind aber die Geschichten zu Krankheiten und Behandlungen. Die Diagnosen lauteten: Brustkrankheit, Fußkrankheit, Fieber, Krätze, Geistes- oder Doppelkrankheit und eben Geschlechtskrankheiten wie Syphilis. Zur Therapie standen nur geringe Möglichkeiten zur Verfügung: Chirurgische Versorgung äußerlich sichtbarer Schäden und der Ausgleich des inneren „Säftegleichgewichts“, auch durch Aderlass, „Abführen“ oder „Schröpfen“. Im schönen Buch „Die Berliner Charité. Schlaglichter aus 3 Jahrhunderten“, das als Begleitung unbedingt zu empfehlen ist, findet man dazu folgenden Satz: „Aus heutiger Sicht erstaunt es, dass relativ viele Patienten als geheilt oder gebessert entlassen wurden. Ruhe, Wärme und geregelte Mahlzeiten taten womöglich das Ihrige …“

Wenn man überhaupt etwas an der Ausstellung kritisieren will, dann ist es, dass diese Erkenntnis nicht in die Gegenwart verfolgt wird. Die Charité bot nämlich in ihren Anfangsjahren herausragende Bedingungen: Die Patienten hatten ein eigenes Bett und gutes und reichhaltiges Essen, bis irgendwann durch ständige Überbelegung die Versorgung durch gestresste Ärzte und Krankenschwestern schlechter, der Umgangston rüder wurde und die Klinik den Namen „Entvölkerungsanstalt“ bekam. Ein Aspekt des Sozialen in der Medizin, der nichts an Aktualität verloren hat.

Den positiven Gesamteindruck kann das allerdings nicht nachhaltig trüben. Wie hier mit der Geschichte des Klinikums etwa in der Psychiatrie im Dritten Reich umgegangen wird, ist nur gut. Die Täter werden benannt und ihre Methoden beschrieben: Besser kann eine Ausstellung das nicht machen.

■ Medizinhistorisches Museum der Charité, Charitéplatz 1, Di. – So. 10–17 Uhr, Mi. und Sa. 10–19 Uhr, Feiertage geöffnet, bis Februar 2011