Ein Mantra ist kein Vaterunser

KONVERSION Warum man sich vom Christentum abwenden, Buddhist werden und trotzdem in der Kirche bleiben kann – eine persönliche Reflexion

Ein kleiner Junge lag im Bett und faltete die Hände. „Bete!“, hatte die Mutter gesagt, und der Junge murmelte in seinem Kopf: „Lieber Gott, mache, dass die Oma wieder gesund wird“, auch wenn er skeptisch blieb, ob es was nützen würde. Am nächsten Abend lag er wieder da: „Mach, dass die Oma gesund wird.“ Aber war da nicht noch was Wichtiges? „… und dass Papa und Mama sich nicht scheiden lassen.“ Und dass keiner einbräche und das Haus nicht abbrennen würde; dass er nicht sitzenbliebe – obwohl da an sich keine Gefahr drohte.

Von Abend zu Abend wuchs der Berg der Wünsche und nach einer Weile stellte der Junge fest, dass aus den Wünschen Sicherheitsvorkehrungen geworden waren gegen die Unbilden des Lebens. Worum er nicht gebeten hatte, könnte dem HERRN unwichtig erscheinen und ihn zur Nachlässigkeit verleiten. Nach einem Monat schien es dem Jungen, als müsse er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern tragen, als hinge es von ihm ab, ob Frieden herrschte oder Krieg – als würde die Welt einstürzen, wenn er nicht dafür betete, dass jedes Sandkorn an seinem Platz blieb. Statt den Himmel zu öffnen, hatten ihm seine Gebete den Himmel verstellt.

Diese neurotische Art zu beten ist nur ein Grund, aus der Kirche auszutreten. Man sollte meinen, dass Beten zu lernen zum Standard einer protestantischen Erziehung gehörte, doch die Kirche geht davon aus, dass das Zwiegespräch mit Gott sich von alleine lernt. Aber wie mit IHM sprechen? Viele Pfarrer wissen selbst keine Antwort.

Der Gottesdienst macht die Sache nicht besser: Eine blutarme Liturgie mit einer Predigt im Mittelpunkt, die von einem guten Buch ausgestochen wird. Die durch das Abendmahl gestiftete Gemeinschaft ist eine peinliche Angelegenheit, bei der die Angst im Vordergrund steht, sich an den Bazillen seines Nächsten zu infizieren. Der Grundton ist weinerlich. Warum müssen die Konfirmanden eigentlich zum Gottesdienst gezwungen werden?

Dann das Leiden; die Schuld: Über jedem Altar hängt das Zeichen einer grausamen Hinrichtung mit der Mahnung: ER ist für Deine Sünden gestorben! Du stehst ewig in SEINER Schuld – mag Jesus das so gemeint haben oder nicht. Was ist das für eine Religion, die sich delektiert am Leiden, die den Ausweg nur im Jenseits sieht und den Weg dahin durch das Fegefeuer pflastert?

Das Leiden steht auch im Buddhismus im Zentrum – als Wesenszug des Lebens. Doch wie anders geht der Buddhismus damit um! Seine zentrale Botschaft ist: „Das Leiden kann aufgehoben werden“ – und zwar nicht im mit einer Vorhölle bewehrten Jenseits sondern hier und jetzt. Keiner ist für Dich gestorben, sondern es hat einer vorgelebt, wie Erlösung möglich ist.

Selbstverständlich ist auch vieles am Buddhismus befremdlich. Auch hier gibt es Götter, Dämonen und Höllen – aber der kulturelle Abstand macht es leichter, sie als bloße Bilder zu sehen. Dazu kommt eine Lehre, die bei aller Ausschmückung im Volksglauben von der fundamentalen Leerheit allen Seins ausgeht. Das Sein besteht aus wechselseitig voneinander abhängigen Erscheinungen, die ständig entstehen und vergehen. In der Meditation kann man diese Zusammenhänge allmählich intuitiv verstehen.

Als Westler ist es leicht, die kirchenähnliche, hierarchische Organisationsform vieler buddhistischer Gemeinschaften zu ignorieren – und auch deren Erblasten. Der Buddhismus präsentiert sich als Religion ohne Ballast, ohne die niederdrückende Verwicklung in die Gesellschaft, wo religiöse Würdenträger vom Staat mit Pfründen versehen werden und Priesterstellen erblich sind.

Was hält einen praktizierenden Buddhisten davon ab, aus der Kirche auszutreten? Der praktische Aspekt ist: Was tut die Kirche mit dem Geld; bräuchte die buddhistische Gemeinde es dringender? Die Sache hat aber auch eine emotionale Seite, bei der es um das Herkommen geht. Es ist merkwürdig, sich Europa ohne Kirchen vorzustellen. Was für eine Entfremdung von der eigenen Geschichte, von der Kunstgeschichte wäre das! Aber vielleicht ist es ja auch möglich, den christlichen Teil der europäischen Geschichte so zu betrachten wie das Altertum.

Auf der persönlichen Ebene wiegt das Gefühl, treu sein zu müssen, noch schwerer. Im Geiste christlicher Nächstenliebe erzogen, Kindergottesdienst erlebt, Kindergottesdienst gemacht, lange Abende mit dem Pfarrer diskutiert – positive Erfahrungen, das prägt sich ein. Am Ende versiegte der Glaube – doch der Abschied war traurig.

Es mag ein Stück Sentimentalität dabei sein, doch bei aller Kritik bleibt die Erinnerung an Dinge mit Kraft: Die Musik, besonders der Gesang – sofern er nicht vom Kirchenchor okkupiert wird – und die vertrauten Texte: die aus der Bibel, das Vaterunser – „… denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen“ – der Segen, die Psalmen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Sein Stecken und Stab trösten mich“. Die Kraft solcher Sätze lässt sich schwer durch ein später gelerntes buddhistisches Mantra ersetzen. Während der Kindheit eingepflanzt und entsprechend aufgeladen trösten sie unmittelbar. Ein Mantra hat da viel aufzuholen.  GERNOT KNÖDLER