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KINO Keith Millers Spielfilm „Welcome to Pine Hill“ erzählt unsentimental von einem todkranken Afroamerikaner

Das Bild des starken Mannes bekommt erste Risse, wenn man ihn in seiner Wohnung kotzen sieht

„Welcome to Pine Hill“ von Keith Miller ist ein stiller, eindringlicher Film, der den Zuschauer von der ersten Minute an in seinen Bann zieht; der Fragen von „race and class“ völlig unprätentiös behandelt; der vom Sterben erzählt, ohne jemals sentimental zu werden, in einer teils nah am Dokumentarfilm gelegenen Bildsprache, die sich nie in kunstvollen Bildern aufdrängt oder ausstellt, sondern eine Rhythmik erzeugt, die einen mitnimmt.

Am Anfang steht ein Dialog im spärlichen Licht Brooklyns. Shannon Abu (Shannon Harper), ein schwergewichtiger Afroamerikaner, Mitte 30 vielleicht, spricht mit einem dünnen Weißen über den Hund, den dieser mit sich führt. Der schwergewichtige Afroamerikaner, ein Riesenbaby, sagt, es handle sich um seinen Hund, den er vor Wochen verloren habe. Der Weiße gibt zu, dass er den Hund gefunden hat, wirft dem anderen aber vor, keine Zettel mit Suchmeldungen an die Bäume geheftet zu haben. Schließlich einigt man sich darauf, dass der Weiße den Hund behalten kann, wenn er dem Schwarzen 250 Dollar gibt.

Dann sieht man Shannon im kalten Bürolicht bei seiner Arbeit als Schadensregulierer einer Versicherung. Geduldig hört er seinen Klienten zu, stellt präzise Fragen. Ganz langsam lernt man den Helden in seiner Umgebung kennen. Das Bild des starken Mannes bekommt erste Risse, wenn man ihn in seiner Wohnung kotzen sieht. In einer nächsten Szene sieht man ihn beim Arzt; die Diagnose ist niederschmetternd: er hat eine seltene, aggressive Form von Magenkrebs. „Haben Sie Familie, eine Freundin, Freunde?“, fragt der Arzt. „Not really.“

Es ist ein Schock. Und dieser Schock teilt sich umso präziser mit, als Shannon fast keine Regung zeigt. Er sitzt zu Hause, auf Autopilot, trinkt ein Bier, isst etwas. Am Rande des Tischs liegt der zusammengefaltete Befund des Arztes. Shannon versucht, seine Angelegenheiten zu ordnen, wieder quitt zu werden, trifft sich mit schwarzen Freunden aus dem Drogenbusiness, bezahlt Schulden, besucht seine Mutter. Dass er früher Drogendealer war, dass er einen Zweitjob als Türsteher hat, erfährt man eher beiläufig. Von seiner Krankheit erzählt er niemandem. Nachdem alles erledigt ist, begibt er sich auf eine Reise zu Orten seiner Vergangenheit.

Der ausschließlich mit Laien besetzte und über Crowdfunding finanzierte Film ist nur 80 Minuten lang, nimmt sich aber Zeit für fast dokumentarisch wirkende Dialoge; mit den Freunden, mit der Mutter, in einer Bar mit einem Klugscheißer, mit einem Taxifahrer, einem Illegalen aus Ecuador.

Die Anfangsszene ist ein Re-Enactment einer wirklichen Begebenheit: genau so hatte der Regisseur seinen großartigen Hauptdarsteller kennengelernt.

DETLEF KUHLBRODT

■ „Welcome to Pine Hill“. Regie: Keith Miller. USA, 2013, 81 Min. Zu sehen am 27. und 28. August im Sputnik Kino