„Ich bin ein Nichtsnutz“

HAUSBESUCH Er ist Junkie und obdachlos, das letzte Date war vor der Wende. Bei Gero W. im offenen Vollzug

VON PLUTONIA PLARRE
(TEXT) UND AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Berlin-Hakenfelde am nördlichen Rand der Hauptstadt. Gero W. (52) verbüßt in der Strafanstalt des offenen Vollzugs sieben Monate Haft wegen versuchter Körperverletzung, Beleidigung, Bedrohung und Hausfriedensbruch.

Draußen: Der Zaun ist eine bessere Grundstücksumfriedung. Dahinter acht zweistöckige Häuser mit weißer Fassade. 250 Haftplätze hat die offene Vollzugsanstalt Hakenfelde. Gitter und Stacheldraht? Fehlanzeige. Stattdessen: Bäume, Büsche, Rabatten, in denen Pfefferminze, Margeriten und Lilien blühen. Auf der Wiese plätschert ein Springbrunnen. „Sanatorium. Ja!“, sagt Gero.

Drin: „B 205 – Einzelunterkunft“ steht an der Tür. Auf 9,5 Quadratmetern ein Waschbecken, zwei Spinde, ein Bett mit blau-weiß karierter Bettwäsche. Jede Woche wird gewechselt. Fernseher, Kommode, Tisch, Stuhl. Im Regal stapeln sich die Bücher. John le Carré. Umberto Eco. Robert Anton Wilson, Lion Feuchtwanger – alles aus der Knastbibliothek. Die Lautsprecheranlage knarzt. Das Zimmer ist sauber und aufgeräumt. „Das ist hier Bedingung“, sagt Gero und deutet auf die Hausordnung an der Wand. Täglich fegen, täglich lüften, steht da. Mülleimer regelmäßig leeren, Rauchen im Bett verboten. „Eigentlich bin ich eher faul und unordentlich. Aber wenn du hierbleiben willst, musst du Mustergefangener sein.“ Im Spind wenige Kleidungsstücke, Klopapier, Teebeutel, Nescafé. Auf dem obersten Bord in einem Bilderrahmen das Foto einer Frau mit weißen Haaren: Silberpappel. Gero hat ihr diesen Namen gegeben. Die 72-Jährige ist für ihn der wichtigste Mensch. „Das ist wie Mutter und Sohn. Wir kümmern uns umeinander.“

Was macht er? „Ich habe immer noch den Kulturschock“, sagt Gero. Er war schon oft im Knast. Weil er Junkie ist, wanderte er stets in geschlossene Gefängnisse. „Ich kannte bisher gar keinen offenen Vollzug.“ Hier in Hakenfelde gäben sich die Beamten und Sozialarbeiter richtig Mühe. „Die versuchen, den Menschen hinter der Akte zu sehen. Das habe ich noch nie erlebt.“ Im Juli hat er 20 Stunden Ausgang bekommen, im August sind es schon 40. Die restliche Zeit zupft er Unkraut. Das sei keine qualifizierte Arbeit, mehr Beschäftigung, „aber anstrengend!“ Er zieht das linke Hosenbein hoch und zeigt auf sein Knie. „Ich bin das doch gar nicht gewöhnt.“ Gero zündet sich eine Zigarette an. „Seit ich im Knast bin, rauche ich nur noch eine Schachtel am Tag. Draußen habe ich zwei bis drei geraucht.“ Es klingt zufrieden.

Was denkt er? Er müsse seine vielen juristischen Probleme im Auge behalten. „Da bleibt keine Energie, nachzudenken.“ Geros Lebensgefühl ist, „der Fußabtreter für alle zu sein, weil ich ein Assi bin“. Die sieben Monate Knast hat er unter anderem aufgedrückt bekommen, weil er sich gegen U-Bahn-Securitys zur Wehr gesetzt haben soll. Gero sagt, der Vorwurf sei völlig absurd. Aber so sei das nun mal in der modernen Gesellschaft: „Einer muss gefickt werden. 70.000 Menschen sitzen im Stadion, und einer kriegt den Puck an den Kopf, und das bin eben ich.“

Gero W.: Geboren und aufgewachsen in Gelsenkirchen. „Schalcker bin ich.“ Mit einem Notendurchschnitt von 2,0 macht er Abitur und studiert in Berlin Jura. Als er das zweite Mal durchs Staatsexamen fällt, gibt er auf. Seit fast 30 Jahren ist er drogenabhängig, für seine Heroinsucht macht er eine unglückliche Liebschaft verantwortlich. Seit Längerem wird er mit Polamydon substituiert. „Ich bin ein Nichtsnutz“, sagt Gero. „Ein trockengelegter Junkie auf Ersatzstoff.“ Seit 2005 lebt er mehr oder weniger auf der Straße.

Das letzte Date: „Das letzte Mal ficki-ficki war vor der Wende“, sagt Gero und lacht schallend.

Einsam? „Es gibt da so ein neudeutsches Modewort: Empathie. Das kann ich sehr leicht entwickeln“, sagt Gero. „Deshalb bin ich nicht einsam.“ Alte Leute auf der Treppe, Frauen in der U-Bahn mit Kinderwagen. „Keine Sau hilft. Da muss ein armer Assi wie ich seine Taschen abstellen und anpacken.“

Der Alltag: Um 6.30 Uhr ist Arbeitsbeginn. Um 5.30 Uhr klingelt sein Wecker. Morgentoilette? „Na ja. Rasieren nicht und Zähne putzen auch nicht. Für die sechs Stück lohnt sich das doch nicht.“ Gero öffnet den Mund und gibt den Blick in eine beinahe zahnlose Höhle frei. Drei Zahnbürsten liegen originalverpackt in seinem Spind. Seine Tagesdosis von 12 Milligramm Polamydon holt er sich jeden Morgen im Arztzimmer ab. Nachmittags, nach der Arbeit, ist er meistens in seinem Zimmer, guckt fern, liest, macht sauber. „Das Essen ist sagenhaft. Ganz gesund mit reingeschnittenem Gemüse, Möhrchen und so. Jeden Tag drei Sorten Brot. So ’ne Stapel“, er macht eine Handbewegung Richtung Decke. „In anderen Knästen musst du den Doktor anschreiben, wenn du zwei Scheiben mehr willst.“ Jeden Abend ruft er Silberpappel an. Vor der Telefonzelle anstehen heißt das. Es gibt nur drei Boxen.

Wie finden Sie Merkel? „Die ist nicht dumm. Dass sie sich hergibt für diese ganzen Schweinereien, ist mir unverständlich. Die Wahl gewinnt sie haushoch.“

Wann sind Sie glücklich? „Wenn es Silberpappel gut geht. Wenn sie sich mit Heroin aussöhnen könnte und ich es auch kriegen würde – so vom Arzt auf Krankenschein.“

Nächstes Mal treffen wir Familie Faigle in Binsdorf. Interesse? Mailen Sie an hausbesuch@taz.de