Rennpferde durchs Kuhdorf gehetzt

Premiere von Vincenzo Bellinis Oper „La Sonnambula“ an der Deutschen Oper: Regisseur John Dew hat in seinerdrei Jahre alten Inszenierung ganz auf Pop und Gesangssport gesetzt und darüber vergessen, aufs Drama zu hören

Die Deutsche Oper ist noch immer damit beschäftigt, das Erbe des frustriert aus dem Amt geschiedenen Intendanten Udo Zimmermann abzuarbeiten. Der war vor seiner Berliner Zeit Intendant in Leipzig und hatte versprochen, die dort 2003 produzierte Inszenierung von Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“ auch in Berlin zu zeigen. Also geschah es. Mit drei Jahren Verspätung war nun am Mittwoch an der Bismarckstraße zu sehen, was sich der Regisseur John Dew einst für Leipzig einfallen ließ. Es ist nicht eben viel, um es gleich zu sagen.

Angefangen hat es allerdings sehr gut. Raunen im Saal, als sich der Vorhang öffnet. Kühe überall, als Wahrhol’sches Tapetenmuster auf zwei Wänden links und rechts, in Großformat auf dem Fußboden und als lebensechte Attrappe am hinteren Rand der Spielfläche – die Kunstkuh kann sogar im Takt mit dem Schwanz wedeln. Im Hintergrund leuchtet ewiger Schnee hinter Tannen, und die ironische Absicht ist unverkennbar. Der Spaß an dieser poppigen Oberfläche lässt jedoch bald nach, denn so lustig wie dieses Plastik-Kuhdorf in den Schweizer Alpen ist Bellinis Werk dann doch nicht.

Bei der Uraufführung 1831 flossen Tränen der Rührung, und wenn man genauer hinhört, als das John Dew getan hat, versteht man auch, warum. In einer dramaturgisch schlichten Folge extrem virtuoser Belcanto-Nummern, die gelegentlich an die Grenze des überhaupt Singbaren gehen, inszeniert diese Oper eine nicht weniger extreme seelische Verletzung: In der Nacht vor der Hochzeit legt sich die Braut schlafwandelnd in das Bett eines anderen Mannes – ein Graf, der sich nobel zurückzieht. Sie aber wird trotzdem entdeckt. Das ganze Dorf ist in Aufruhr. Niemand, schon gar nicht der Bräutigam, glaubt an die Unschuld dieser Frau, denn nicht erst seit Freud wissen wir, dass es keine unschuldigen Träume gibt. Das Liebesglück, das so idyllisch wie sicher schien, ist zerstört.

Zur Versöhnung kommt es erst, als die Träumerin wieder – diesmal vor den Augen des ganzen Dorfes – schlafwandelnd ihr Unbewusstes entblößt. Dew lässt die Sängerin für diesen Höhepunkt vor den Orchestergraben treten. Wenig originell, aber wirkungsvoll von einem Verfolgerscheinwerfer ausgeleuchtet, hat die Koreanerin Eunyee Nun endlich doch die einsame Gelegenheit, in jene Tiefe vorzudringen, die Dew dem Stück sonst beharrlich verweigert. In ruhigen, lyrischen Melodiebögen entfaltet Bellini die Trauer um den Verlust, die leise übergeht in den Wunsch, dass der Geliebte doch noch zurückkehren könnte.

Dramaturgisch überaus perfekt endet diese Traumwanderung – nun wieder auf der Kuhbühne – mit dem Aufwachen im Arm des Bräutigams, den diese Demonstration überzeugt hat. Natürlich lässt Bellini jetzt Chor und Solisten losjubeln bis in jene Höhen hinauf, die nicht mehr wohlklingend sein können. Sie sollen es auch nicht: Bellinis Artistik ist nie nur Selbstzweck für Gesangsstars, sie ist auch Ausdruck einer Grenzüberschreitung. Dew jedoch scheint darin immer nur die übermäßige, anti-naturalistische Künstlichkeit der Koloraturen gesehen zu haben. Sie hat ihn offenbar dazu verleitet, das Drama augenzwinkernd wegzuschieben, als sei es nicht mehr als ein Anlass für einen Sängerwettstreit.

So naiv ist Bellinis überwältigende Volkstümlichkeit jedoch nicht. Im Dorf muss alles rund um den Sex neu verhandelt werden – nur will Dew davon nichts wissen. Zotige Running Gags wie der ständig in Ohnmacht fallende Notar oder die (eigentlich tragisch angelegte) Wirtin, die dem Grafen den Hintern zum Ficken hinhält, ersetzen das nötige Nachdenken über die Personen. Das macht diese Oper fast unspielbar für die Solisten, die nun wie Rennpferde über die sinnlos gewordenen Hindernisse ihrer Bravour-Arien hetzen müssen. Merkwürdig seelenlos liefern sie ab, was verlangt wird, nicht immer perfekt, aber immerhin tapfer. Redlich haben zumindest sie sich den Applaus verdient.

NIKLAUS HABLÜTZEL

„La Sonnambula“, Deutsche Oper, nächste Aufführungen: 25. & 28. 3.,1. & 5. 4.