Normalzeit: HELMUT HÖGE über den bohrenden Ethnoblick
„Überwachen heißt zuvörderst die eigene Müdigkeit bekämpfen.“ (Michel Foucault)
Das erste Mal wurde unser Hinterhof-Soziotop in SO 36 beschattet, als im Zuge der Wende immer mehr Osteuropäer dort einzogen. Wir bekamen davon zunächst nichts mit, aber eines Tages sprachen mich zwei Polizisten im Treppenhaus an. Sie wollten wissen, ob ich jemanden im Haus Russisch sprechen gehört hätte – was ich empört verneinte, schon weil die Frage eine Aufforderung war, jemanden ans Messer zu liefern.
Die Polizei war wahrscheinlich sowieso nicht hinter Russen, sondern hinter zwei Bulgaren her. Denn als diese im vierten Stock auszogen, fand die Nachmieterin unterm Teppich drei Pässe von bulgarischen Mädchen. Die Bulgaren hatten sie – wohl gegen Bezahlung – über die Grenze geschleppt und als Pfand deren Pässe einbehalten, woraufhin die Mädchen sich einfach ohne ihre Ausweise aus dem Staub gemacht hatten. Das war in etwa die Hausmeinung darüber.
Die nächste polizeiliche Observierung begann, nachdem sich im Laden nebenan ein arabisches Trödlerkollektiv eingemietet hatte, immer mehr auf die Straße expandierte und auch immer mehr arabische Jugendliche anzog. Man muss dazu wissen, dass viele Türken in unserer Straße die Araber nicht mögen und auch schon öfter Auseinandersetzungen mit ihnen hatten. Zudem wird an der Ecke gerade eine arabische Moschee gebaut, nicht weit von der türkischen, die immer noch in einer Hinterhofetage logiert.
Bei Trödlern findet sich immer mal Diebesgut, und die Jugendlichen dealten vielleicht, denn man sah sie gelegentlich einen Joint im Hauseingang rauchen, oder man roch es. Den in unserem Haus wohnenden Afrikanern war der arabische Trödelladen jedoch hoch willkommen und mir auch. Während zum Beispiel Adisha nach billigen Möbeln und defekten Elektronikgeräten suchte, die sie einmal im Jahr per Container nach Kenia schickte, um sie dort wieder aufbereiten zu lassen und zu verkaufen, suchte ich den Trödelkram immer mal wieder nach Büchern und alten Dia-Sammlungen durch.
Die Türken machten dagegen bald Herrn Topal Vorwürfe, dass er die arabischen Trödler und ihren Anhang in sein Café Anadolu im Vorderhaus geradezu einlade: „Noch bevor ihre Moschee steht, breiten die sich hier schon aus.“ Adisha und ich fanden das interessant („hier ist endlich was los“). Aber irgendwem und irgendwie gelang es dann doch mit Hilfe der Polizei, dass der arabische Trödel wieder verschwand. Aus dem Laden wurde ein türkisches Internetcafé – das ich auch gerne aufsuche.
Nun hatte es die Polizei aber anscheinend auf die Afrikaner abgesehen. Erst mal erwischten sie jedoch mich – vor der taz, mit einer großen Tasche, in der sich womöglich wertvolles Diebesgut befand, das ich im Keller des Rudi-Dutschke-Hauses bunkern wollte. Dazu hätte ich als Aushilfshausmeister ja auch alle Möglichkeiten. Eigentlich wollte und sollte die Polizei sich jedoch auf 26 Fahrräder konzentrieren, die seit einigen Monaten in unserem Hof herumstehen – und die angeblich alle geklaut sind.
Wir hatten sie für die Fahrräder der neuen Wohngemeinschaft im Seitenflügel gehalten, die dazu noch immer viel Fahrradbesuch bekommt. Weil ich aber ohne Tasche ins Haus gegangen war (nachdem ich nebenan eine Tasse Kaffee getrunken hatte) und kurz darauf mit einer dicken Reisetasche wieder herauskam, hatten die jungen Polizisten eigenmächtig, aber messerscharf gedacht: Wo geklaute Fahrräder lagern, wird vielleicht auch kostbareres Diebesgut gebunkert. Jetzt holt es der Hehler im grauen Anzug ab, seinen Mercedes hat er wahrscheinlich um die Ecke geparkt. Ihm nach!
Aber dann stieg ich in den 129er-Bus. Macht nichts, verfolgt ihn. Kurz bevor ich das rettende taz-Gebäude erreichte, konnten die jungen Nun-ja-Menschen ihre Neugier nicht mehr bezwingen und stellten mich an der Ampel. Aber sie waren gute Verlierer und ließen mich ihre Enttäuschung nicht spüren, nachdem sie sich a) davon überzeugt hatten, dass ich dort, wo ich die Tasche abgeholt hatte, auch wohne, und b) dass der Inhalt meiner Tasche aus nahezu wertlosen Übersetzungen sowjetischer Klassiker (Scholochow, Platonow und Solschenizyn etc.) bestand.
Als sie wieder am Observationsstandort ankamen, war jedoch die Hälfte der Fahrräder auf unserem Hof verschwunden. Wir rätseln seitdem, wen sie als Nächstes beschatten. Die meisten Afrikaner meinen: wahrscheinlich die paar dort noch lebenden und meist ziemlich fertigen Deutschen – mich ausgenommen. Und zwar wegen Drogen. Während die Türken unken: gerade mich – wegen meiner naiven Arabophilie und kompletten Al-Qaida-Videosammlung. Dabei kaufe ich bei den Arabern nur Tierfilme.
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