Heimatschachteln unterwegs

Magdeburg versucht, geflohene Magdeburger mit Geschenken zurückzulocken

Die Zurückgelassenen in der Alte-Leute-Metropole wollen ein Zeichen setzen

Schon das Wort Agrarmarketinggesellschaft klingt so öde wie ein abgestoppelter Kartoffelacker. Aber die AMG von Sachsen-Anhalt landete 1996 einen hübschen PR-Coup. Sie startete eine Aktion, um den reichen Brüdern und Schwestern Dank zu sagen für ihre vielen Päckchen mit Aldi-Kaffee und abgetragenen Pullis, die das Überleben in der Konsumwüste DDR sicherten. Mit den Ostpaketen wurde zurückgeschenkt: Hasseröder Bier, Burger-Knäckebrot und Bördekäse. Rund eine Million Fresspakete gingen nach drüben West. Die Marketingidee hatte sich natürlich ein Wessi ausgedacht.

Damals wurden die Päckchen verschickt, um die Ostprodukte auch jenseits von Sachsen-Anhalt loszuwerden. Weil das so schön klappte, hat man sich jetzt daran erinnert. Bald werden wieder ungefragt Pakete aus Sachsen-Anhalt verschickt. Diesmal, um den Empfängern das Zurückkommen schmackhaft zu machen. Die Post ist quasi in noch edlerer Mission unterwegs. Weil die jungen Ossis massenhaft rübermachen und Deutschlands Osten allmählich vergreist, wollen die Zurückgelassenen in der Alte-Leute-Metropole Magdeburg ein Zeichen setzen und „Heimatschachteln“ basteln. Die gehen an 18- bis 30-jährige Magdeburger, die schon weg sind oder bald in andere Bundesländer wegwollen. In die Überraschungspakete tun die Hauptstädter des Schrumpfvolkes der Anhaltersachsen lauter kleine Geschenke, die positive Erinnerungen wecken und die Magdeburg-Identität stärken sollen: Gutscheine für Bars, ein Zeitungsabonnement oder „Heimat-Magneten“ für den Kühlschrank im neuen Zuhause.

Gutscheine für Bars? So eine geniale Idee gab’s in Magdeburg wohl nicht mehr seit Erfindung der Luftpumpe durch Otto von Guericke. Geht die Stadt mit dem Wisch doch gleich zwei Probleme an. Erst stützen die Gutscheineinlöser einen Abend lang an der Bar die Binnenkonjunktur, dann springen sie im Rausch der Wiedersehensfreude mit den Einheimischen in die Kiste oder, wie die Magdeburger schon flachsen, „Heimatschachtel“. Im Suff dann noch die Lümmeltüte vergessen, und schon hat Magdeburg mit Glück nach neun Monaten einen neuen Einwohner. Die Kneiper freuen sich jedenfalls schon auf den Run der Gutscheingäste und planen demnächst sogar After-Comeback-Partys. Menschen, die mal eine Weile in der Bördekapitale gelebt haben, glauben allerdings, dass das so nicht funktionieren wird, weil es keine positiven Erinnerungen an die Stadt gibt, geschweige denn eine Magdeburg-Identität. Und sie verweisen auf die größten Stars des Ortes seit eh. Die Bengels von Tokio Hotel konnten mit ihrem Bandnamen gar nicht weit genug aus ihrer Heimatstadt fliehen. Nicht nur das, jetzt haben die vier Jungspunde ihre Klagelieder über ihre schlimme Zeit daheim – Elternscheidung und so – sogar auf Japanisch aufgenommen. Die Magdeburger sind natürlich trotzdem mächtig stolz auf die Teeniehelden und überlegen gar, deren Hit „Schrei“ zur offiziellen Magdeburg-Hymne zu küren. Wenn’s halt bloß nicht so doppeltsinnig wäre. Zumindest in die Heimatschachteln soll die Single aber mit rein.

Auch sonst wird es schwierig, prominente Magdeburger zu finden, die man als stolze Söhne der Stadt verkaufen könnte. Irgendwie war das Leben hier immer zum Davonlaufen. Dass die FC-Bayern-Truppe um Franz Beckenbauer zum Europacupspiel 1975 mit eigenem Koch und Essen anreiste – geschenkt, ’s war halt Klassenkampfzeit. Aber dass selbst der legendäre 1:0-Schütze gegen die BRD, Jürgen Sparwasser, später gen Westen davonlief, war schon bitter für die Elbestädter (O-Ton DDR-Fernsehreporter), deren einziges Ruhmesblatt der erste Europapokalsieg einer DDR-Klubmannschaft 1974 war.

Heute dümpelt der Verein in der vierten Liga, was immer noch einige Klassen über dem Niveau der offiziellen Selbstdarstellung von Magdeburg im Internet liegt. Fairerweise muss man sagen, dass auf der Homepage eine ehrliche Einschätzung der historischen Höhepunkte der 1.200-jährigen Stadt gegeben wird. Die aufgezählten Beispiele sagen viel: 1965 gab Louis Armstrong in der Hermann-Gieseler-Halle ein Konzert, im selben Jahr wurde der 1. FC Magdeburg gegründet. 1993 wurde die erste schwimmende Spielbank Deutschlands auf dem Motorschiff „JackPott“ eröffnet. Nicht erwähnt, aber ebenfalls wahr: 2005 löschte die Deutsche Bahn die Landeshauptstadt kurzerhand aus ihrer Liste der ICE-Haltepunkte. Auch beim Blick in den Online-Geschenkeshop der Touristenwerber zeigt sich ein Bild des Jammers. Für positive Erinnerungen des Besuchers sorgen sollen der Aufkleber „Magdeburg – die Stadt mit Zugkraft“, der Pin „Wasserstraßenkreuz“ oder ein Schlüsselanhänger mit Einkaufschip.

Ja, auch die Einkaufszentren um Umland sind eine Reise aus der Stadt wert. GUNNAR LEUE