Zwei widerborstige Jungs

KLASSIKER Mark Twains großer, schmutziger, revolutionärer Doppelroman „Tom Sawyer & Huckleberry Finn“ in einer hervorragenden Neuübersetzung

Wir heutigen Erwachsenen haben fast vergessen, was ein Junge ist

VON STEPHAN WACKWITZ

Es gehe im wirklichen und erwachsenen Leben nicht anders zu als an der High School, weiß eine vielzitierte amerikanische Volksweisheit. Bloß sei nach der High School, anders als vor der Reifeprüfung, Geld im Spiel. Endgültig erwachsen, so scheint es, werden wir nie. Deshalb waren auch die großen Jugend- und Adoleszentenbücher der entwickelten Moderne – die Romane Salingers, Hugh Walpoles, Hesses und eben Mark Twains – immer auch Bücher für Erwachsene. Überhaupt hat in diesem Genre während der letzten Jahrhunderte eine merkwürdige literaturhistorische Umkehrbewegung stattgefunden. Denn die ersten Kinder- und Jugendbücher – Robinson Crusoe, Gulliver, der Don Quichotte – sind Bücher für Erwachsene gewesen, mit denen die Erwachsenen nichts mehr anfangen konnten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Mark Twains Bücher über die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn sind die beiden archetypischen amerikanischen Jugendromane für Erwachsene. Was an der Neuausgabe nun als Erstes auffällt, ist die angenehm unangestrengte Übersetzung von Andreas Nohl. Sie funktioniert auf Deutsch in jeder Wendung, ist dabei – besonders wichtig bei Mark Twain – idiomatisch sensibel, geschmackvoll und sie hielt jeder sprachlichen Genauigkeitsprüfung souverän stand.

Alles andere als niedlich

Nohl, der mir als Übersetzer noch nicht aufgefallen war, hat eine eindrucksvolle Publikationsliste: Ratgeberliteratur, Trivialbeststeller, klassische Kriminalgeschichten vor allem. 2004 hat er auch einen Essayband über das Handwerk des Schreibens veröffentlicht, den ich mir gleich mal bestellt habe. Was ein Übersetzer dieser Qualität übers Schreiben weiß, sollte man zur Kenntnis nehmen.

Jedenfalls ist in der steinigen, endlosen, deprimierenden Wüste der Übersetzerei aus dem Amerikanischen (die sich so ungefähr jeder zur Not zutraut und die entsprechend aussieht) zu der Handvoll wirklicher professionals (Günter Ohnemus gehört dazu, und Ulrich Blumenbach) mit Andreas Nohl jetzt eine weitere Begabung endgültig ins Blickfeld der literarisch interessierten Öffentlichkeit getreten, an der ernsthafte Verleger, wie man meinen sollte, zukünftig nicht mehr vorbeikönnen.

Im Licht dieser staunenswerten Übersetzungsleistung funkelt Mark Twains Meisterwerk wie eine frisch geputzte Wohnung. Die Dinge haben wieder Konturen. Becky Thatcher ist wieder das verführerische kleine Mädchen, in das sich Generationen amerikanischer Jungen verliebt haben. Indian Joe ist der faszinierende dämonische Schurke, der in vielen Kindheiten vorkommt. Jim – die einzig heroische und die einzig vollkommen positive Erwachsenengestalt des Doppelromans – ist kenntlich als ein schwarzer Gentleman vom Kaliber eines Frederick Douglass oder eines W. E. B. Du Bois. Einer jener Helden des Schwarzen Amerika, für die Sklaverei noch eine erlebte oder gefühlte Realität gewesen ist und die nach oben gekommen sind durch Bildung, Realitätssinn und indem sie das Versprechen der Unabhängigkeitserklärung für sich in Anspruch nahmen. Vor allem aber werden die beiden jungen Helden Mark Twains wieder sichtbar, seit sie anständig übersetzt sind. Und siehe da – diese beiden Burschen sind alles andere als niedlich.

Man kann diesen Figuren ablesen, dass wir heutigen Erwachsenen weitgehend vergessen haben, was ein Junge ist. Das politische Korrektheitsbedürfnis unseres Schulwesens, überhaupt die wohlmeinende Spießigkeit der gängigen pädagogischen und psychologischen Diskurse haben in den letzten Jahrzehnten die natürliche Borstigkeit, Semidelinquenz, Grausamkeit, Intelligenz, das Autoritätsbedürfnis, die Konkurrenzfreude und den herzerfrischenden Anarchismus der männlichen Latenzperiode und Adoleszenz in ein unverstandenes und trübseliges Schattenreich des Eigentlich-nicht-ganz-Vorzeigbaren verbannt. Tom Sawyer und Huckleberry Finn, um die man sich an einer höheren Bildungsanstalt Deutschlands oder der USA heute ernsthafte Sorgen machen müsste, könnten zu Helden eines längst fälligen boys liberation pride movement werden.

Sie rauchen, sie hauen von zu Hause ab, sie tun nichts in der Schule. Sie benutzen ihre beträchtliche Intelligenz für so ziemlich alles außer für die Zwecke, die die Erwachsenen ihnen vorschreiben. Und die Moral der Geschichte Marks Twains besteht skandalöserweise genau darin, dass die Erwachsenen schließlich in allem Unrecht bekommen. Life is like highschool – just with money. Geld aber – und eine Menge davon – fällt Tom und Huck am Ende ihrer in nichts irgendwie gesellschaftsfähigen Abenteuer zu. Sie gehören zum Schluss zu den reichsten Bürgern von St. Petersburg. Jim ist frei. Huck muss sich nicht zu einem anständigen Mitglied der puritanischen Südstaatengesellschaft erziehen lassen. Überhaupt dürfen alle so bleiben, wie sie sind. Tom hat Becky das Leben gerettet. Sie schaut bewundernd zu Tom auf. Es ist, wie im letzten Satz von Eichendorffs Taugenichts, „alles, alles gut“. Selten in der Weltliteratur hat so viel Jungsanarchismus so viel sinnvolle Ordnung gestiftet.

Besseres hat es nie gegeben

Diese tröstliche, befreiende und menschliche Botschaft hat am Beginn der amerikanischen Literatur gestanden. „Die ganze amerikanische Literatur leitet sich ab von einem Buch, das Mark Twain ‚Huckleberry Finn‘ genannt hat“, schrieb Hemingway 1935. „Alles amerikanische Schreiben kommt da her. Vorher gab es nichts. Etwas Besseres hat es seither nicht gegeben.“ Und es war mir beim genussvollen erwachsenen Wiederlesen der beiden Jugendromane Mark Twains, als sei Hemingways Einsicht von 1935 gerade in der auf ihn folgenden Literatur dann erst wirklich wahr geworden.

Weder Carver noch Salinger, weder Brautigan noch Richard Ford sind denkbar ohne das Vorbild Mark Twains. Vor allem das Sprechen in der ersten Person und der rasiermesserscharf genaue Realismus der Alltagssprache sind als sein Erbe vielleicht erst von uns heute aus in seiner ganzen Wirkungsmacht überschaubar. Zwei große, schmutzige, spannende, lustige, zwei formal wie inhaltlich heute noch revolutionäre und aktuelle amerikanische Klassiker sind jetzt in einer deutschen Übersetzung greifbar, die auf lange Zeit definitiv bleiben wird. Ein durch und durch erfreuliches publizistisches Ereignis.

Mark Twain: „Tom Sawyer & Huckleberry Finn“. Aus dem Amerikanischen von Andreas Nohl. Hanser, München 2010, 712 Seiten, 34,90 Euro