Wo die Blumen blühn

VIELFALT Für die eine ist der Balkon Therapie. Andere gehen aufs Dach. Und ein paar Studenten suchen den Dschungel in der Großstadt

Marzahn. Vier junge Mädchen sitzen nebeneinander an der Bushaltestelle. Alle tragen viel Make-Up. Alle rauchen. Eine spuckt. Dahinter, daneben, davor: Beton. Nur durch Höhe, Breite und Farbe unterscheiden sich die Plattenbauten, die wie Pflöcke in den Boden gerammt sind. Der Linoleumboden in einem davon erinnert an den Boden in Krankenhäusern. Ein bisschen riecht es auch danach. Edeltraud Wierczoch wohnt, gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn, im dritten der zehn Stockwerke. Sei 27 Jahren. Sie hat eine Menge angesammelt. Puppen, Bücher, Fotos, einen Gymnastikball.

Sie redet aber viel lieber über ihren Balkon. Den pflegt sie, seit ihr Mann ausgezogen ist. „Als der noch da war, wurde kein Geld für Blumen ausgegeben.“ Jetzt sitzt sie abends draußen und liest. Inmitten ihrer grünen Insel, mit Blick auf zwei Platten. Vergissmeinnicht, Tulpen, Krokusse, Erdbeeren, Deutzien. Oregano, Rosmarin, Currykraut, Knoblauchkraut, Kraut der Unsterblichkeit. „Davon soll man jeden Tag ein Blatt in den Tee tun. Und dadurch nicht mehr älter werden.“ Buchsbaum, Tanne, Kiefer. Edeltraud Wierczoch hat alles. Oder alles schon gehabt. Geranien und Petunien. Tomaten und Mangold. Amseln und Meisen.

„Jedes Jahr bauen Vögel ein Nest unter dem tränenden Herz.“ Die Pflanze rankt an der Wand entlang, wenn es wärmer ist. Bietet den Tieren Schutz und Schatten. Wierczoch weiß noch, wie das beim ersten Mal war. Als die jungen Vögel flügge wurden. „Da standen mein Sohn und ich hier und haben geheult.“ Und sie weiß noch, wie das mit ihrem Exmann war. „Da kam hier kein einziger Vogel her. So viel, wie der gequalmt hat.“

Heute hängt ein Vogelhaus an der Wand, Vogelfutter an einem Zweig. Auf den Töpfen sitzen Hasen-, Frosch- und Lammfigürchen. Neben den Töpfen stehen Enten-, Eulen- und Engelfigürchen. Irgendwo dazwischen: ein kleiner Teddy, ein geschnitztes Eichhörnchen, ein blauer Wecker. „Als Kind hatte ich eben keinen Schnickschnack“, sagt Edeltraud Wierczoch. Sondern bloß einen Karton mit Spielsachen. Und wenn die mal nicht aufgeräumt waren, „dann warf sie mein Vater in den Ofen“.

Der Garten übernimmt viele Funktionen im Leben der 58-Jährigen. Er ist nicht nur Freizeit. Er ist Therapie, Selbstverwirklichung, Identität. Sie erklärt sich über ihn und der Garten erklärt sie. 2007 belegte Edeltraut Wierczoch den zweiten Platz im Balkonwettbewerb, den Wohnungsgenossenschaft und Quartiersmanagement jedes Jahr ausschreiben. Sie zeigt die Urkunde, erzählt vom Restaurantgutschein, den sie gewonnen hat. Dieses Jahr will sie eigentlich nicht daran teilnehmen. „Ich denke, schöner kann mein Balkon nicht werden.“ Aber das hat Wierczoch letztes Jahr auch gedacht. Und dann hat sie sich kurz vor Bewerbungsschluss doch noch beworben.

ANNABELLE SEUBERT

Kreuzberg. Der Raum ist fast leer, die Bierbank hart, das Licht kalt. Und der Stuhlkreis in der Mitte seltsam. Andrea ereifert sich über die Müllkippe am Görlitzer Bahndamm. Andreas spricht vom „Lebensraum Friedhof“. Auch wenn es schwer danach aussieht: Die grüne Uni ist keine Selbsthilfegruppe. Sondern eine Hochschulgruppe – mit erklärtem Ziel. „Wir wollen den Großstadtdschungel.“ Thomas, der Leiter, packt das Modell eines begrünten Flachdachs aus und lässt es durch die Hände der paar Studenten wandern. Susi, zum ersten Mal bei der montäglichen Sitzung, betrachtet den Minigarten eine Weile. Dreht ihn um. Hebt ihn hoch. Dann nickt sie. So, als habe sie etwas verstanden. „Wir brauchen ein Dach.“

Bambusfahrrad, Solareierkuchen, Obstbaumparty. Die grüne Uni hat schon mehr schräge Ideen verwirklicht, als man ihr auf den ersten Blick zutrauen mag. Thomas und sein Team graben Nutzpflanzen in Berliner Erde ein, demonstrieren gegen den Bau von Autobahnen und werben für Elektroroller. Jetzt also Gemeinschaftsdachgärten. Der Plan steht. Und nun? Thomas redet über Baumscheiben und ihre Paten, eine Homepage, die anzeigt, wo es Kirschen und Birnen zum Selbstpflücken gibt und eine Feier auf dem Flachdach der Freien Universität. Wo bitte das Dach herkommt und wann alle mit Buddeln anfangen, sagt er nicht.

Weil das Zeit braucht. Leute braucht. „Wir müssen zunächst eine Infrastruktur aufbauen.“ Umständlich drückt der Organisator aus, wofür er hier eigentlich kämpft. Vielleicht funktioniert gerade deswegen so gut, was er hier eigentlich tut: Er macht bewusst. Dafür, dass urbaner Garten geht. Er sensibilisiert. Dafür, dass Berlin grünes Potenzial hat.

Er mobilisiert. Als nächstes will Thomas eine Exkursion veranstalten. Mit allen, die mitmachen wollen. Und mit allen, die erst ungläubig schauen und dann Gärtner-Visionen entwickeln.

Auf einen Dachgarten soll es gehen, einen, der möglichst weit über Berlin blicken lässt, möglichst viel Horizont sichtbar macht. Seine Anhänger sollen schließlich sehen, wie schön die Welt von oben ist. Wie sie in Gemeinschaftsdachgärten entspannen und gleichzeitig das Stadtklima verbessern, die Nachbarn kennenlernen, Nützliches und Leckeres anbauen können. Thomas verteilt schon mal Samentütchen. abs

Steglitz. Kein Mensch. Kein Lärm. Der Teltowkanal fließt zur Linken, der Stadtpark erstreckt sich zur Rechten. Es riecht sauber, frisch, fast würzig. Es ist: sauber, frisch, fast kitschig. 17 Dachgärten gibt es hier, die verglaste „Dachstudios“ einrahmen. Das sind kleine Hütten mit einer Tür nach draußen zur Natur und einer Treppe nach unten zur Wohnung. Die alte Genossenschaftssiedlung mit ihren 140 Wohnungen und 13 Häusern wurde vor acht Jahren saniert, das Spitzdach abgetragen, das Gartenparadies aufgetragen.

„Hier wohnt der Anwalt neben dem Lehrer und der Banker neben dem Handwerker.“ Renate Krause wohnt zwar im ersten Stock, arbeitet aber für die Wohnungsgenossenschaft und hat deshalb einen Schlüssel für die oberste Etage. Außerdem plaudert es sich dort gut, mit der Kulisse. In Garten eins steht ein Korb voller Stiefmütterchen, Tausendschönchen und Hyazinthen. Skulpturen aus Ton reihen sich daneben. In Garten zwei stehen Apfelbäume, Birken und Johannisbeersträucher. „Wenn es hier blüht, das sieht herrlich aus!“ In Garten drei stehen zwei leere Töpfe. Garten drei gehört dem Banker.

Das Paar in Garten vier bringt gerade seine Pflanzen ins Freie. Oliven- und Orangenbäumchen, Ginkgo und Kumquat. „Ich liebe die Ruhe. Dieser Platz ist einzigartig in Berlin“, sagt der Mann. „Der Garten bedeutet uns pure Erholung“, sagt die Frau. Renate Krause sagt: „Im Sommer ist hier hier richtig was los. Die Kinder spielen zusammen, wir treffen uns zum Grillen.“ Sie zeigt auf Garten fünf. „Die haben einen Grill für 40 Würstchen.“

Dann ist da noch das Feuerwerk an Silvester, das sich vor einem ausbreitet. Das Vogelkonzert, das den Verkehr übertönt. Und die Tatsache, dass Dachgärten nicht bloß schön anzusehen sind. Eine Pflanz-, Substrat- und Drainageschicht speichert Regenwasser und sorgt für Wärmedämmung, was Energiekosten einspart. Die Dachbegrünung ist nicht bloß neuer Lebensraum für Schmetterlinge und Bienen, sie filtert Staub und Schadstoffpartikel aus der Luft.

Renate Krause, die Hausbesorgerin, kennt den reinen Duft, sie ist ja oft da oben. Manchmal muss sie ihre Kollegen von der Genossenschaft herumführen, die schauen sich die Dachgärten so gern an. „Dann mach ich das halt.“ Keine der Ein- bis Vierzimmerwohnungen, ob 50 oder 150 Quadratmeter groß, steht jemals auch nur einen Monat leer. abs