TRANSPARENZ IST AUCH KEINE LÖSUNG
: Was man Eigensinn nannte

Knapp überm Boulevard

ISOLDE CHARIM

Natürlich haben die Affäre um den amerikanischen Geheimdienst NSA und jene um die neonazistische Gruppierung NSU nichts gemeinsam – und doch führen die jeweiligen Enthüllungen zur selben Erkenntnis: die Exekutiven – oder zumindest Teile davon – entwickeln eine Eigendynamik. Sowohl Teile des deutschen Verfassungsschutzes als auch der amerikanische Geheimdienst folgen ihrer eigenen Logik und handeln nach Interessen, die nicht jene des gesamten Staates sind.

Die US-amerikanische Soziologin Saskia Sassen warnte schon vor längerer Zeit vor einem Selbstlauf der Exekutive: Mit der Globalisierung erfahre die Exekutive einen Machtzuwachs, der nicht nur das Gleichgewicht gefährde, welches die Gewaltenteilung gewährleisten sollte. Laut Sassen führt die Eigendynamik der Exekutive auch zu einer – bis dato unbemerkten – Spaltung im Inneren des Staates: Der Selbstlauf von Teilen der exekutiven Gewalt stellt die Einheit des Staates infrage.

Sassens Warnung war prophetisch, machte sie diese doch lange vor den Enthüllungen von Edward Snowden, die diese Entwicklung noch viel nachdrücklicher zeigen als etwa jene von Manning und Assange. Bezogen sich Letztere noch auf ein Kriegsgeschehen, so kam mit Snowden die Eigenmacht der Exekutive in unser aller Alltagsleben an und erwies deren Selbstlauf nicht als Korruption, sondern als systematischen Machtmissbrauch.

Dieser ist nicht mehr ein Fehler, eine falsche, sondern vielmehr die eigentliche Funktionsweise. Die Spaltung des Staates, von der Sassen spricht, ist nicht abstrakt, sondern betrifft uns alle – das ist es, was Edward Snowden jedem vor Augen geführt hat. Das wirklich Heikle daran ist nicht nur die Verletzung oder tendenzielle Auflösung unserer Individualsphäre (jener Rechte, die den Schutz des Einzelnen in seinen Beziehungen zur Umwelt garantieren sollen), wirklich heikel ist auch das, was bei der NSU-Affäre schon ablesbar war: der massive Vertrauensschwund in die staatlichen Institutionen.

Der „Handel“ zwischen den Bürgern, die sich freiwillig selbst beschränken, im Tausch gegen das Gefühl von Freiheit und Schutz wird untergraben. Denn dieser „Handel“ bedarf der Garantie, dass Institutionen, die legalen Zugang zur Gewalt haben – wie eben Verfassungsschutz, Geheimdienste, Polizei – tatsächlich demokratisch funktionieren. Und demokratisch heißt dabei öffentlich, im öffentlichen Interesse.

Was wir aber derzeit erfahren, ist das genaue Gegenteil davon: eine Verkehrung der Begriffe von privat und öffentlich. Geheimdienste, die ihren partikularen Interessen folgen, agieren privat – während Einzelne, wie etwa Edward Snowden, öffentlich handeln, indem sie auf das Gemeinwohl und das öffentliche Interesse abzielen. In dieser bedenklichen Situation gilt „Transparenz“ als Allheilmittel. Für alle Seiten. So verspricht etwa Obama, für mehr Transparenz bei den Aktivitäten der NSA zu sorgen. Wenn dies nicht scheinheilig ist, dann ist es bestenfalls ohnmächtig. Politik, die längst begrenzt war durch die Macht von Konzernen und Finanzkapital, scheint sich nun – im Zangengriff von „privatisierter“ Exekutive und großen Internetfirmen – völlig aufzureiben. Transparenz ist aber auch die heutige Losung der Zivilgesellschaft.

Der Politologe Ivan Krastev stellt diesen Ausweg in seinem neuen Buch („In Mistrust We Trust“) vehement infrage. Die Vorstellung, Transparenz würde das Vertrauen in demokratische Institutionen wiederherstellen, beruhe, so Krastev, auf dem Irrtum, dass Wissen etwas verändert. Es sind aber nicht die Informationen, die zu einer tatsächlichen Veränderung führen (schließlich ahnte man das alles).

Nicht die Transparenz, nicht die Wahrheit macht einen wirklichen politischen Unterschied, sondern ausschließlich der Umstand, dass Leute es „wagen, diese Wahrheit auszusprechen“. Eigensinn nannte man das früher. Dass darin tatsächlich ein Wagnis liegt, das belegen die Schicksale von Bradley Manning, Julian Assange und Edward Snowden nur allzu deutlich.

■  Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien