Die Welt als Verschwörung

Schon der Titel „Die Intrige“ führt die Leser listig in die Irre. Umso mehr lohnt es sich, Peter von Matts brillantes neues Buch zu lesen

von ANDREW JAMES JOHNSTON

Kaum etwas fasziniert so sehr wie die Hinterlist. Wer Theorie und Praxis der Intrige zu bieten verspricht, kann sich des Publikums sicher sein. Das weiß auch der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt und nennt sein neues Buch: „Die Intrige: Theorie und Praxis der Hinterlist“. Schon an dieser Stelle aber wird der Germanist selbst zum Täuscher. Denn seine Untersuchung ist gar keine keine Darstellung der Intrige in Theorie und Praxis.

Der Titel kommt einer gezielten Irreführung nahe. Er ist Teil einer groß angelegten List, um nicht zu sagen: einer Hinterlist. Sein Buch handelt nämlich nicht von der Intrige im Allgemeinen, sondern nur von ihrer literarisch-fiktionalen Erscheinungsform. Nicht um das Mobbing am Arbeitsplatz oder die irakischen Eskapaden des BND geht es, sondern um die List auf der Bühne oder im Roman.

Also veranstaltet Matts Studie im Titel genau das, was sie zu beschreiben vorgibt, eine Täuschung, allerdings eine brillante. Der wirkliche Gegenstand des Buches ist nichts Geringeres als die Literatur selbst und die Intrige nur das Trojanische Pferd, in dem sich ein höchst origineller Überblick über die Literaturgeschichte verbirgt. Die Hinterlist ist ein Vehikel, um Grundfragen des Literarischen zu thematisieren.

Diese Täuschung gelingt vortrefflich, und zwar deshalb, weil Matt unter Berufung auf Aristoteles die Lüftung eines Geheimnisses zum „Basisvorgang der Literatur überhaupt“ erklärt: Ihrer ganzen Struktur nach drängt die erzählte Intrige zur Auflösung ebenjener Täuschung, die sie selbst inszeniert. Matt erläutert dies anhand eines morphologischen Intrigenmodells, eines Bauplans der Täuschung in der Literatur. Und nachdem er seinen Lesern auf höchst unterhaltsame Weise alle Elemente der Intrige erklärt hat, testet er sein Modell an der Literaturgeschichte.

In einem gewaltigen Bogen von der Bibel bis zu Graham Greene erzählt Matt an ausgewählten Beispielen die Geschichte der europäischen Literatur als Modernisierungsgeschichte nach. Zentral ist der Wandel von den höfisch-aristokratischen Normen zu den bürgerlichen Werten, die der literarischen Moderne den Weg bereiten. Schon in der Antike stellt die Intrige ein modernisierendes Element dar, denn sie zeigt, wie Menschen sich durch zielgerichtetes Handeln an die Stelle des Schicksals zu setzen versuchen. Da aber die Intrige vor allem Handlung bedeutet und Handlung von Handelnden abhängt, ist der Siegeszug der literarischen Hinterlist eng an die Entwicklung des Subjekts gebunden, an das Konzept eines autonomen Persönlichkeitskerns, der sich aus traditionalen Bindungen löst oder sich in Opposition zu ihnen bildet.

Sobald aber die Moderne anfängt, das Subjekt selbst infrage zu stellen, kommt die literarische Intrige aus der Mode. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird sie in die Populärkultur abgedrängt. Dies deutet sich schon in der Weimarer Klassik an. Im „Tasso“ verlegt Goethe den entscheidenden Teil der Intrige ins Innere seines Helden, sodass aus dem Konflikt in der höfischen Gesellschaft der Konflikt mit ihr wird. Schiller hielt das Drama ohne rechte Verschwörung zwar für misslungen, doch auch er zweifelte an der Intrigenwelt der fürstlichen Höfe und entwarf eine Skizze für ein Drama am Schauplatz der wuchernden Metropole Paris.

Die lineare, uhrwerkartige Intrigenhandlung sollte einem Netz komplexer Strukturen weichen, das die Möglichkeiten der Bühne gesprengt hätte. Während Goethe die Intrige psychologisierte, wollte Schiller ihre Fäden ins Unendliche spinnen. Wenige Jahrzehnte später nahm Balzacs Pariser Intrigenwelt dann jene netzartige Struktur an, in der es zu Auflösung und Katastrophe im aristotelischen Sinne gar nicht mehr kommt: Die geniale Intrigantin Bette stirbt, ohne entdeckt worden zu sein.

In Strindbergs Stück „Der Vater“ schließlich wird die Intrige durch die Paranoia ihres Opfers, eines uniformbewehrten Rittmeisters, erst hervorgebracht. Das problematisch gewordene (männliche) Subjekt der Moderne treibt sich selbst in einen Untergang, der als einziger Ausweg aus einer unerträglichen gesellschaftlichen und Geschlechtsidentität erscheint. Einen Höhepunkt dieser modernistischen Tendenz, die Intrige aus dem Zentrum der Handlung zu nehmen und zugleich die Rolle der Handelnden als Subjekte in Zweifel zu ziehen, sieht Matt bei Thomas Bernhard erreicht. In dessen Drama „Vor dem Ruhestand“ inszenieren die Figuren ihre als Gefängnis empfundene Subjektrolle Jahr für Jahr als makabres Ritual. Zwanghaft feiern sie bis in die Siebziger hinein Himmlers Geburtstag. Das autonome bürgerliche Subjekt wird vollends als Illusion demaskiert.

An dieser Stelle, die einem so neu dann doch wieder nicht vorkommt, schlägt Peter von Matt die interessante Volte, die seiner Intrige die eigentliche Brisanz verleiht. Bei aller modernisierungstheoretischen Stringenz seiner Darstellung artikuliert er nämlich ein stetes Missbehagen an der Großen Erzählung der Literatur, die mit unausweichlicher Folgerichtigkeit auf die Ästhetik der europäischen Moderne und Postmoderne und deren Infragestellung des Subjekts zuläuft. Matt zweifelt am Alleinvertretungsanspruch des illusionären (post)modernen Subjekts. Auch die Moderne bietet nur eine spezifische Spielart der Subjektivität, eine historisch kontingente Form der Subjektwahrnehmung, die in einigen Jahrzehnten wieder passé sein könnte.

Hier macht sich bezahlt, dass Matts origineller Blick eben nicht nur der Höhenkammliteratur gilt, dass er in der Lage ist, Patricia Highsmith’ Tom Ripley als Idealvertreter des modernen Subjekts oder Frederick Forsyth’ kunstvoll gebauten Roman „Der Schakal“ als thrillertechnisches Pendant zum französischen Strukturalismus zu sehen.

Matts Kritik gilt einer elitären Auffassung von Literatur, die keinen Begriff von Genre hat und demzufolge ganze Gattungen in den Bereich des Trivialen verweist, ebenso wie sie es sich herausnimmt, die Literatur vergangener Epochen für obsolet oder veraltet zu halten, nur weil diese ein anderes Subjektkonzept hat als die moderne. Dabei zeigt Matt, wie sich gerade der Spionageroman das Thema der Intrige zu Eigen macht und ein zentrales, zu literarischen Höchstleistungen fähiges Genre der modernen Epoche wird. Auch in der Moderne ist die Intrige noch lange nicht am Ende.

Kurz vor Schluss zitiert Matt Schiller: „Kein Mensch muss müssen.“ Denn was und wann man muss, was und wann man kann, sei eine Grundfrage der Literatur, ähnlich der Frage nach der Existenz Gottes. Die Frage nach dem Müssen und Können steht im Zentrum der literarischen Intrige, die für Matt ein Kernelement des Erzählens schlechthin ist. Das Erzählen erörtert also schon seiner Natur nach Grundfragen der menschlichen Existenz, die Literatur wird zur Philosophie, oder besser: zur Anthropologie. Insofern geht es in diesem Buch doch um mehr als nur die literarische Intrige, sodass man sich am Ende nicht ganz so getäuscht fühlen muss. Und das ist vielleicht der brillanteste Trick an dieser großen Intrige.

Peter von Matt: „Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist“. Hanser Verlag, München 2006, 498 Seiten, 25,90 Euro