Große Gesten, kleine Schritte

An die Diktatur erinnern, aber wie? Argentinien dreißig Jahre nach dem Militärputsch

AUS BUENOS AIRES ANNE HUFFSCHMID

Es dröhnt unaufhörlich. Kleinlaster, Busse und Pkws donnern über die Köpfe hinweg, der Boden vibriert. Unter der Überführung der mehrspurigen Stadtautobahn ist keine Ruhe, niemals. Beileibe kein Ort zum Verweilen. Und doch soll man hier innehalten.

Denn auch unter der Autobahn ist es wieder unruhig geworden. Entlang des Bürgersteigs erstreckt sich eine staubige Baustelle, die in die Tiefe führt. Was hier freigelegt wird, Zentimeter für Zentimeter, ist einer der geheimen Folter- und Haftkeller aus der Zeit der letzten Militärdiktatur, die Argentinien von dem Tag des Putschs, dem 24. März 1976, bis 1983 beherrschte. Neun Monate lang hat das damalige Untergeschoss eines Polizeigebäudes als Geheimgefängnis „Club Atlético“ gedient.

Miguel d’Agostino hat 91 Tage in dieser Erde verbracht. Es war im Jahr 1979, er war gerade achtzehn Jahre alt, ein politisch aktiver Schüler, als ihn eines Tages ein bewaffnetes Kommando überfiel und vor den Augen der Eltern in ein schwarzes Auto verfrachtete. Nach der Entführung folgte die Auslöschung: Er war fortan nicht mehr Miguel, sondern musste sich K35 nennen. Wie alle Verschleppten erwartet auch ihn gleich zu Beginn seiner Haft eine mehrtägige „Foltersitzung“. Drei oder fünf Tage, genau könne er sich nicht erinnern, sagt er. Seine Stimme klingt nüchtern, nicht kalt.

Als d‘Agostino im vergangenen Sommer vor internationalem Publikum vom „Atlético“ berichtete, hatte seine Stimme versagt, er hatte geweint. Heute könnte er das vermutlich schon: das Unvorstellbare vorstellbar machen, das Unerzählbare erzählen. Sich zu erinnern, selbst an Schrecken und Ohnmacht, heißt ja auch, sich ein wenig der verlorenen Kontrolle zurückzuholen.

Nach drei Monaten Haft wurde Miguel d’Agostino überraschend freigelassen. Als sie ihn an einer Straße ausgesetzt hatten, sogar mit Fahrgeld für den Bus in der Tasche, wog er gerade noch 38 Kilo. Ein Kilo Bonbons habe er auf einen Schlag verschlungen, als er zu Hause ankam. Tags darauf ist er dann von Tür zu Tür gezogen, um all die Familien und Freunde aufzusuchen, denen etwas zu berichten war, von denen, die noch lebten, und denen, die schon ermordet waren. Beliebt waren die Überlebenden nicht, „wir waren Überbringer schlechter Nachrichten“, stellt d’Agostino fest.

Wochen später sei er „wie ein Irrer“ durch die Stadt gelaufen und habe nach seinem Keller gesucht, den er ja nur von innen kannte. Eines Tages fand er ihn, durch reinen Zufall, das Gebäude war wegen des Baus der Stadtautobahn schon halb abgerissen, das Fundament wurde gerade zugeschüttet. „Ich habe mich nicht getraut, ein Foto zu machen.“

Seit der Rückkehr zur Demokratie 1984 treffen sich ehemalige Gefangene des Atlético regelmäßig. Zu allen Jahrestagen veranstalten sie mit Sympathisanten unter der Autobahn improvisierte Feiern mit Fackeln und Gedenktafeln. Viele Jahre später gibt die gerade neu gewählte, linksliberale Stadtregierung endlich grünes Licht für die Freilegung der Stätte. Unter ihrer Federführung kommt es im April 2002 zum ersten Spatenstich.

Wir stehen im Keller. Die ersten Wände und Mauerreste sind freigelegt, hier der „Löwenkäfig“, dort der „Krankenraum“ und da drüben die Wachstation. Überall Stützbalken und Holzgerüste. Ein Team junger Archäologiestudenten durchforstet seit Monaten den Schutt, der ein paar Straßen weiter säuberlich in Plastiktütchen sortiert auf langen Holzregalen aufgereiht ist. Eine Scherbe, ein Knopf, ein zerkratzter Emaillebecher, eine Gürtelschnalle mit Hakenkreuz, ein Knüppel. „Hilf mir, Gott“ steht eingeritzt auf einem ausgegrabenen Mauerstück. Jedes Stück erzählt eine Geschichte.

Etwas der kleine weiße Ball. Die Gefangenen hatten ja die Augen verbunden, tagaus, tagein, mit stinkenden Kapuzen und Lappen, die immer dreckiger wurden. Nur selten konnten sie einen kurzen Blick unter der Binde hervor riskieren. Dafür war das Gehör umso geschärfter, jedes Detail wurde registriert. Das Husten des Mitgefangenen, die Straßengeräusche, jeder Laut aus dem Wärterzimmer. „Da haben wir immer dieses Plop-Plop gehört“, erinnerte sich d’Agostino. Dann fand man bei den Ausgrabungen den Tischtennisball.

Eine halbe Autostunde gen Norden liegt die Militärakademie, ein blütenweißer Bau mit schlanken Säulen. Jacarandabäume sprenkeln den Bürgersteig in leuchtendem Lila, hinter dem verschnörkelten Gitter liegt gepflegter Rasen in sattem Grün und akkurat gestutztes Gebüsch. Auf dem Portal des eleganten Baus steht Escuela de Mecánica de la Armada, kurz ESMA genannt. Hinter der schmucken Fassade ließ die Junta sieben Jahre lang foltern und morden. Fünftausend Menschen sollen hier gefangen gehalten worden sein, zweihundert überlebten.

Das dreistöckige Offiziers-Casino ist ein imposantes Haus. Weiß getünchte Wände, grüne Fensterläden, ein Ziegeldach. Im Foyer empfangen den Besucher blank polierte Holzsäulen bis zur Decke, überall glänzendes Parkett, im Salon mit den hohen Fenstern steht ein langer Banketttisch. Hier war das Hauptquartier der Einsatztruppe, die mit der Verschleppung und dem Verhör von „Subversiven“ betraut waren.

Dass man heute hier hinein kann, ist dem neuen Präsidenten zu verdanken. Am 24. März 2004, zum 28. Jahrestag des Militärputsches, öffnete Néstor Kirchner in einem spektakulären Akt, in Begleitung von Überlebenden und Familienangehörigen, die Tore und deklarierte das gesamte ESMA-Gelände, das bis zu diesem Tag als Militärschule gedient hatte, zu einem künftigen „Museum der Erinnerung“. Noch ist die Marine nicht gänzlich abgezogen, gerade ein Fünftel des riesigen Areals – 17 Hektar mit insgesamt 32 Gebäuden – steht bislang unter Kontrolle der städtischen Menschenrechtsabteilung.

Die „Operationssäle“, wie die Folterkammern genannt wurden, sind heute leer, in der Ecke nackte Glühbirnen, ein paar rostige Rohre. Nüchterne Texttafeln erklären die Aufteilung der „Funktionsräume“. Drei Stockwerke höher, La Capucha, die Kapuze, das Dachgeschoss. Licht dringt nur durch eine Dachluke. Hier, so steht auf den Tafeln zu lesen, dämmerten die Gefangenen vor sich hin, auf Pritschen oder auf dem Boden, angekettet und in Handschellen, die Augen auch hier verbunden, jede kleinste Bewegung, jedes Sprechen war bei Strafe verboten.

Das Kirchner-Dekret ist eine große Geste, bislang ohne Beispiel in Lateinamerika. Vor einer Woche erst erklärte er zudem den 24. März zum Staatsfeiertag. In vielen Ländern gibt es eigens angelegte Parks und Monumente, die dem Gedenken an die Diktaturen gewidmet sind. Doch keine dieser Stätten befindet sich auf Militärgelände. Und an keinem dieser Orte ist die Entscheidung, was mit dem Ort geschehen soll, so ausdrücklich den Menschenrechtsgruppen überantwortet worden. Die Debatte, woran und wie auf diesem gigantischen Gelände erinnert worden soll, hat gerade erst begonnen. Und sie ist kompliziert. „So viele Jahre wollten wir die ESMA haben“, erklärt Marta Vásquez, eine der Mütter von der Plaza de Mayo. „Wir waren nicht vorbereitet, dass wir sie jemals bekommen könnten.“

Die Bühne der Mütter, die Plaza de Mayo, ein beliebter Platz mitten in der Stadt, war die letzten dreißig Jahre der zentrale Erinnerungsort in Buenos Aires – ohne jegliches präsidiale Dekret. Jeden Donnerstag, kurz vor halb vier, geraten die Tauben vor dem Regierungspalast ein wenig in Aufruhr. Für eine halbe Stunde müssen sie den Müttern weichen. Jenen Frauen mit Kopftuch, die seit einem Apriltag im Jahr 1977, als sie sich zum ersten Mal trafen, ihre Runde um die Pyramide in der Mitte der Plaza drehen. Mal stunden- und mal auch tagelang, die ersten Jahre allein und in großer Angst, seit dem Abtritt der Junta von Kameras und anderen Menschen begleitet. Heute fotografieren sich die Touristen vor der Kulisse der Marschierenden.

Anfangs war es noch darum gegangen, die verschleppten Kinder lebend wiederzubekommen. Nach und nach sickerte die schreckliche Gewissheit ein, dass das wohl nie passieren würde. An eben dieser Frage scheiden sich seit zwanzig Jahren die Geister, die Mütter sind gespalten, ihrer Donnerstagsrunde laufen sie zur gleichen Stunde, aber in zwei Blöcken geteilt. Die einen, die Gründungslinie, hält immer noch die Fotos der Kinder in die Höhe. Ihnen geht es nach wie vor draum, wer ihre Söhne und Töchter umbrachte und wie. Die anderen halten Transparente, auf denen von „Auslandsschulden“ und „Imperialismus“ die Rede ist. Es geht hier um „die revolutionäre Sache.“

„Der Marsch ist zum Ritual geworden“, sagt Laura Bonaparte, eine attraktive Achtzigjährige in Jeans und Sandalen. Die Psychoanalytikerin war von Anfang an dabei, drei ihrer vier Kinder hat sie an die Militärs verloren. Seit einiger Zeit geht Bonaparte donnerstags nicht mehr mit. Zuweilen komme es ihr vor, als seien sie zu „Müttern von Gespenstern“ geworden. Und überhaupt, man habe zu wenig erreicht. Bonaparte, eine der bekanntesten Streiterinnen, ist müde geworden. Warum immer nur die Mütter zuständig seien? „Schließlich ist der gesamten Gesellschaft eine Generation abhanden gekommen.“

Fünfzehntausend Verschwundene sind namentlich registriert, viele Menschenrechtler gehen von doppelt so vielen aus. Wie und wo sich die Junta der Toten entledigt hat, ist bis heute ein grauenhaftes Rätsel. Als sicher gilt, dass einige tausend betäubter Gefangener aus Militärflugzeugen in den Rio de la Planta geworfen wurden. Gerade fünfhundert Körper haben Forensiker bislang geborgen, nur zweihundert konnten identifiziert werden.

Und, nein, viel hat man in den nunmehr dreiundzwanzig Jahren seit dem Ende der Diktatur nicht erreicht. Unter Kirchner wurden nun immerhin die in den Achtzigern beschlossenen Amnestiegesetze rückwirkend annuliert. Damit können rund tausend Verfahren wieder eröffnet werden, über fünfhundert Militär- und Polizeiangehörigen sind darin involviert. Davon aber befinden sich bislang nur an die zweihundert in Justizgewahrsam und von diesen lediglich zwanzig hinter Gittern. Das Recht ist die eine Seite. Die andere ist, wie sich die Stadt erinnern will.

Im Unterschied zum benachbarten Chile, wo die Bilder vom Fußballstadion als Gefangenenlager um die Welt gingen, war die argentinische Junta stets darauf bedacht, die mörderische Bürokratie unsichtbar werden zu lassen. Deshalb waren die Haftkeller geheim, deshalb ist die ESMA heute so glatt. Schon als sich Ende der Siebziger die erste UNO-Kommission ankündigte, um „Gerüchten“ über Menschenrechtsverletzungen nachzugehen, begannen die Militärs mit der Vertuschung. Fahrstühle und Kellertreppen wurden zugebaut, Folterkeller an andere Orte verlegt. Wie also den makellosen Bau zum Sprechen bringen? Die Spuren der Vertuschung belassen – oder das Ursprüngliche leibhaftig rekonstruieren? Ließe sich denn ein Gestalter finden, der eine Folterbank nachbaut?

„Erinnerung ist nicht einfach etwas, was wir drinnen tragen und rausholen müssen“, warnt die argentinische Soziologin Elisabeth Jelin vor der Gleichsetzung von Erinnerung und Wahrheit. Erinnern sei keine Antwort, sondern ein Prozess, in dem sich immer neue, auch schmerzhafte Fragen stellen. Etwa nach den Grauzonen jenseits von Opfern, Helden und Verrätern, nach dem komplexen Verhältnis zwischen Gefangenen und ihren Peinigern, nach Wegsehen und Mittäterschaft.

Wie extrem weit das Feld der Erinnerung in Argentinien umkämpft ist, wird im Streit um die ESMA deutlich. Konservative Leitartikler und Politiker schäumen über das vermeintliche „Sektierertum“ der Menschenrechtler und die „Siebziger-Jahre-Nostalgie“ des Präsidenten. Doch auch im linken und liberalen Lager gibt es keinen Konsens darüber, wie dieser „Erinnerungsraum“ zu nutzen sei. Viele Angehörige und ehemalige Gefangene wollen die ESMA am liebsten leer lassen. Pädagogen plädieren für Geschichtsdidaktik, staatliche Menschenrechtsbeauftragte wollen ein klassisches Museum, prominente Künstler wie Marcelo Brodsky eine Halle für Erinnerungskunst. Wieder andere stellen sich vor, das Gelände für gegenwärtige Zwecke zu nutzen. Laura Bonaparte hätte gerne ein Studienzentrum oder einen Campus.

Auch beim Club Atlético stellen sich Fragen. Man wird sich entscheiden müssen, ob man die Ruine belassen oder den Keller rekonstruieren soll. Vorerst aber gilt es weiterzugraben, der Erde und auch der Stadtverwaltung den Boden abzutrotzen. Wenn sie beweisen können, dass der Zellentrakt sich über eine bestimmte Fläche erstreckte, erzählt d’Agostino, dürfen sie weitergraben. Falls nötig, so ergänzt er kühl, müsse dafür dann eben die Stadtautobahn umgeleitet werden.

ANNE HUFFSCHMID, 41, lebt als freie Autorin und Kulturwissenschaflterin in Berlin