Gottschalk sagt
: Die Penner von der Pop-Linken

Gibt es bei uns in NRW eigentlich auch den Typus des „urbanen Penners“, den die Berliner Stadtzeitung Zitty neulich erfunden hat? Kreative, die eigentlich kein Geld verdienen und in ehemaligen Gemüseläden auf ihre Macs schauen, wo sie Flyer für Gleichgesinnte entwerfen und nicht wissen, wie sie die 16 Stunden, die ordentliche Kreative auf Arbeit zu verbringen haben, über die Runden kriegen sollen. Wenn Sie dazu gehören und sich gerade beim Lesen der taz von einigen anstrengenden Sudoku-Runden erholen, wenn Sie bereits online getestet haben, ob sie AlkoholikerIn oder der romantische Typ sind und zehn prominente Frauen am Dekolleté erkannt haben, dann könnten Sie jetzt eigentlich mal etwas Vernünftiges machen. Lesen Sie den Verfassungsschutzbericht NRW.

Wer sich einen Überblick über den aktuellen Zustand sowie Entwicklungen, Erfolge und Misserfolge der radikalen Linken im Geschäftsjahr 2005 verschaffen will, ist mit dieser Analyse bestens bedient. Bei den personellen, finanziellen und gesetzlichen Mitteln, die dem Verfassungsschutz zur Verfügung stehen, kann man allerdings auch ein halbwegs vernünftiges Ergebnis erwarten.

Es ist dieser klare Blick von außen, der angenehm nüchterne Tonfall und eine profunde Sachkenntnis, die den Bericht zu einer lohnenden Lektüre machen: „Die unterschiedlichen Ansichten über elementare Prinzipien (Militanzdebatte, Organisierung, Sexismusvorwürfe) der autonomen Lebenswelt, zu denen seit langem keine ernsthaften Diskussionen mehr erfolgen, führen gerade wegen der individuellen Selbstbestimmtheit in der autonomen Szene zu einer Unverbindlichkeit, die einvernehmliche Lösungen verhindert und daher letzten Endes in Beliebigkeit und Desinteresse mündet.“ Steht so was Schlaues auch auf Indymedia?

Ich werde übrigens ebenfalls erwähnt. „Im Verlauf einer Entwicklung, die zur Verbürgerlichung vieler ‚Alt-Autonomer‘ geführt hat, haben sich neue Gruppierungen gebildet, die nur noch Teile des autonomen Lebensgefühls für sich in Anspruch nehmen.“ Wäre ich kein verbürgerlichter Alt-Autonomer, müsste ich mich laut Verfassungsschutzbericht heutzutage zwischen „Anti-Deutschen“ (die bereits kritische Äußerungen gegen Israel als antisemitisch verwerfen) und Antiimperialisten entscheiden. Auch nicht schön. Ich könnte mich mal bei der „Pop-Linken“ bewerben, aber ob die mich ohne hippe Umhängetasche und abgeschlossenes Studium nehmen, ist fraglich. Außerdem kommen die nicht mal im Verfassungsschutzbericht vor, die urbanen Penner. Da kann man ja gleich zu den Jusos gehen.CHRISTIAN GOTTSCHALK

Fotohinweis: CHRISTIAN GOTTSCHALK lebt in Köln und sagt die Wahrheit – alle zwei Wochen in der taz