Die Weite der inneren Welt

Kreuzworträtsel statt Landschaft: Ein Gespräch mit Thomas Arslan über zufällige Begegnungen, seinen neuen Film „Aus der Ferne“ und das Eigenleben, das Regisseure ihren Figuren geben sollten

VON ANDREAS RESCH

Thomas Arslan ist sichtlich verwirrt, als wir ihn vor der „Markthalle“ in Kreuzberg abfangen, weil der Fotograf – „bei der Kälte?“ – noch ein paar Bilder draußen von ihm machen möchte. Im anschließenden Gespräch ist der Filmemacher ernst, konzentriert, zurückhaltend. Er trägt einen blauen Pullover und Dreitagebart. Arslans Art zu sprechen ähnelt der Bildsprache in seinen Filmen: reduziert, klar und schnörkellos.

Zur Welt kam Thomas Arslan in Braunschweig, zur Grundschule ging er in Ankara. Danach kehrte er nach Deutschland zurück. Nach einem Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin wurde durch seinen Film „Geschwister“ (1996) erstmals ein größeres Publikum auf ihn aufmerksam. Der Film ist – gemeinsam mit „Dealer“ (1999) und „Der schöne Tag“ (2001) – Teil einer Trilogie, die junge Türken in Deutschland porträtiert. Die Figuren werden dabei nie zu „ideologisch aufgeladenen Kunstfiguren“ stilisiert, wie Feridun Zaimoglu solche Prototypen treffend bezeichnet hat. Jede Person hat ihren eigenen, persönlichen Lebensentwurf.

So wie die Brüder Erol und Ahmed in „Geschwister“, Söhne einer deutsch-türkischen Mischehe. Während Erol die Werte des türkischen Vaters hochhält – Familie, Ehre, Patriotismus –, ist Ahmed eher liberal, glaubt nicht an familiäre Verpflichtungen. Warum sie zu den Menschen geworden sind, die sie sind, kann höchstens angedeutet werden. „Man sollte sich davor hüten, alles zu erklären, denn Figuren brauchen Freiräume, damit sie ein Eigenleben entwickeln können. In meinen Filmen sollen verschiedene Weisen, den Alltag zu erfahren, nicht gegeneinander ausgespielt werden“, erklärt Arslan, während er sich eine weitere American Spirit anzündet.

Seine Produktionsfirma hat er „Pickpocket“ genannt – nach einem Film von Robert Bresson. Zwischen Bressons Film und Arslans „Dealer“ bestehen einige Parallelen: Beide Geschichten werden retrospektiv von einem im Gefängnis sitzenden Protagonisten erzählt. Bei Bresson ist es ein Taschendieb, bei Arslan ein Kleindealer. Während es in „Pickpocket“ – frei nach Dostojewski – um die Frage geht, inwieweit ein Mensch jenseits von geltenden Moralvorstellungen leben kann, spielt diese philosophische Dimension in „Dealer“ keine Rolle. Denn dessen Hauptfigur Can ist, so Thomas Arslan, „lange Zeit gar nicht in der Lage, ihren Zustand zu reflektieren“. Erst gegen Ende des Films entwickelt Can einen freien Willen.

Die Frauen in Thomas Arslans Filmen sind zwar nicht unbedingt glücklicher, meistens aber stärker als die Männer. So wie die junge Schauspielerin Deniz in „Der Schöne Tag“, die auf ihren Streifzügen durch Berlin gezeigt wird. Nachdem sie die Beziehung zu ihrem Freund beendet hat, trifft sie einen jungen Mann in der U-Bahn, führt Gespräche mit ihrer Mutter, mit der Schwester, mit einer Professorin. Es geht um Lebensentwürfe, Liebe und zufällige Begegnungen. „Ich fordere den Zufall nicht heraus. Wenn er mich herausfordert, finde ich das interessanter“, sagt Jaques, der Protagonist in Eric Rohmers Film „Sommer“, dessen weibliche Hauptrolle Deniz in ihrem Nebenjob synchronisiert.

Ein Satz, der erstaunlich gut auf Thomas Arslans Arbeitsweise an seinem neuen Film „Aus der Ferne“ zutrifft. Denn auch er ließ sich auf seiner West-Ost-Reise durch die Türkei vom Zufall leiten. Lange hielt er sich an den einzelnen Orten auf, wartete und filmte die sich ergebenden Begegnungen. So entstand auch eine der schönsten Szenen im Film, in der drei junge Mädchen auf einer Bank sitzen, gemeinsam ein Kreuzworträtsel lösen, herumalbern. Eigentlich sollte eine Landschaftsaufnahme entstehen, doch die drei beobachteten das Geschehen so interessiert, dass sie mit dem Regisseur ins Gespräch kamen und schließlich zu einem Teil des Films wurden.

Während Fatih Akin in seinem Film „Crossing the Bridge“ die Musik der Metropole Istanbul einfängt, dokumentiert „Aus der Ferne“ deren Klänge: die monotonen Maschinengeräusche in den Fabriken, die Fangesänge im Fußballstadion, das verschwommene Stimmengewirr in den Bahnhöfen, rauschendes Wasser, Glasklirren, Baulärm. Denn, so Thomas Arslan, „jede Stadt hat ihren eigenen, spezifischen Klang. Das sollte im Film Präsenz haben.“ Die Soundlandschaften geben einen ständig wechselnden Rhythmus für den Ablauf der Bilder vor.

Diese wiederum unterlaufen permanent die Erwartungen des Zuschauers. „Man versucht, Bilder zu finden, die nicht schon x-mal gemacht worden sind. Gleichzeitig aber darf man nicht einfach reflexartig Gegenbilder entwerfen“, beschreibt der Filmemacher den schwierigen Balanceakt. Auch wenn die Landschaften auf der Reise nach Osten immer karger werden, wird die Diskrepanz zwischen moderner Westtürkei und ruralem Osten immer wieder momentweise aufgehoben: Etwa wenn im östlichen Diyarbakir Menschen beim Shoppen in einem Einkaufszentrum gezeigt werden, ein Junge in ein Videospiel vertieft ist oder eine Gruppe von Frauen einen traditionellen Tanz aufführt – begleitet von brachialen Beatbox-Synthesizerklängen.

Ein schönes Bild, denkt man, das gleichermaßen für die Tradition wie für den Einbruch der unaufhaltsamen Technologisierung steht. Doch genauso wenig wie Thomas Arslan das ständige Durch-die-Stadt-Streifen seiner Spielfilmfiguren als Symbol für deren innere Zerrissenheit verstanden sehen möchte, sollen die Bilder in „Aus der Ferne“ auf etwas über sie Hinausgehendes verweisen. Arslan erklärt, er halte sich „ans Sichtbare“. Auch deshalb wohl wird das Gezeigte nur spärlich kommentiert.

Paul Auster beschreibt in seinem „Buch der Illusionen“ folgendes Paradox: Je mehr ein Film darum bemüht sei, Realität zu simulieren, desto weniger sei er in der Lage, diese tatsächlich zu zeigen – die innere Welt der Figuren gehe unweigerlich verloren. Thomas Arslan gelingt es – und darin besteht seine große Kunst –, ein Stück dieser Realität einzufangen, ohne dabei den unverstellten Blick auf seine Figuren einzubüßen.

„Aus der Ferne“. Regie: Thomas Arslan, Deutschland 2005, 89 Min.