Reduziert auf die RAF

WIDERSTAND Der Verbrecher Verlag legt die Bücher des Hamburger Schriftstellers Christian Geissler neu auf

Am 23. September 2008 wurde Christian Geissler im ostfriesischen Ditzumerverlaat beerdigt. Ein zum Katholizismus konvertierter Kommunist findet in Begleitung eines protestantischen Pfarrers die letzte Ruhe. Mehr Widerspruch geht nicht. In ihren Trauerreden beanspruchen verschiedene politische Gruppen Geissler als „ihre“ Symbolfigur.

Die Öffentlichkeit, wenn überhaupt, reduzierte Christian Geissler auf den RAF-Autor. Geissler wollte Genossen nicht im Gefängnis vermodern lassen. Das hat seine Geschichte: Als Sohn eines Nazis, selbst Kriegsteilnehmer, Flakhelfer, Deserteur, Kommunist, waren für ihn alle, die gegen die Faschisten gekämpft hatten vornehmlich eines: Genossen.

„Wird Zeit, dass wir leben“, das erste Buch einer Geissler Werkschau im Verbrecher-Verlag, ist jetzt neu erschienen. Titel und Buch sind Programm. Der Roman, erstmals erschienen 1976, erzählt von einer Gruppe von Personen, die sich ab 1933 zufällig treffen und lernen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Vorlage zu dem Roman waren reale Personen: unter anderen Bruno Meyer. Der hatte versucht, einen von den Nazis eingesperrten Hamburger Kommunisten aus dem Gefängnis zu befreien. Der Clou: Bruno Meyer, im Roman Leo Kantfisch, war Polizist. „Der Abschließer wird zum Aufschließer“, sagt Geissler, dies hätte ihn inspiriert.

Nebenbei verarbeitet Geissler die kontroversen Entwicklungen innerhalb der KPD zu jener Zeit. Seine Protagonisten stehen im Konflikt zwischen spontaner, individueller Aktion und Parteidisziplin. Es ist das Verdienst von Detlef Grumbach, all diese Stränge in seinem Nachwort der Neuauflage aufzudröseln.

„Eigentlich hätte mich die nach dem Krieg illegale KPD-Führung als Schriftsteller und kollektivfernes Individuum erschießen lassen müssen“, brachte Geissler einen seiner Lebenskonflikte auf den Punkt. Trotzdem versuchte er den Sprung vom „ich“ zum „wir“. Er versuchte in den 80er-Jahren ein Netzwerk aufzubauen zwischen der illegalen (RAF) und legalen Linken. Der Widerstand, so Geissler, dürfe sich nicht zerreiben lassen. Dieses Projekt ist gescheitert.

Mit „Wird Zeit, dass wir leben“ macht der Verlag ein Hauptwerk Geisslers wieder öffentlich. Von solchen Büchern wird gesagt, sie seien schwer zu lesen. Dos Passos, Döblin und Peter Weiß entwerfen ähnliche literarische Muster. Geissler konstruiert seine Sprache mit Collagen, musikalischen Rhythmen und Assoziationen. Zeitlebens blieb Geissler bei seiner Methode, Sprache zu zerspleißen. Er misstraute ihr. Gegen eine von den Nazis missbrauchte Sprache musste Geissler schreibend Widerstand leisten.  THOMAS SCHUMACHER

Lesung: 10. September, 20 Uhr, Buchladen Osterstraße, Hamburg