URNEN, BOB DYLAN UND GUSTL MOLLATH
: Für die zweite Chance reicht keine Postkarte

VON HELMUT HÖGE

Am Checkpoint Charlie sah ich an einem Postkartenstand, wie ein etwa vierzigjähriger Mann aus Stuttgart, ein Ingenieur vielleicht, kurz zögerte, aber dann doch eine Karte mit der Aufschrift „Berlin liebt Dich“ kaufte. Er schien diesen an sich ja sauverlogenen Spruch erst auf sich bezogen zu haben – im Sinne von: „Ja, hier bekomme ich nun meine zweite Chance.“ (Wie ein Staubsauger zieht die neue Hauptstadt Midlifekrisen aus Nah und Fern an, die hier noch mal neu anfangen wollen.) Dann fiel dem „Ingenieur“ jedoch ein, dass die Postkarte ja zum Wegschicken da war. Und man sah richtig, wie er überlegte, wem er sie schicken könnte. Zuerst fielen ihm einige weibliche Adressaten ein – wohl weil er statt „Berlin“ seinen Namen dort gelesen hatte: August Meier (oder wie immer er hieß) liebt dich – komm zu ihm nach Berlin. Aber dann erinnerte er sich an einen guten Freund aus alten Stuttgartzeiten, der dort noch immer in einer Midlifekrise steckte – und dringend eine zweite Chance brauchte. Ihm würde er die Karte schicken.

Die Berliner „Servicestelle Jugendsozialarbeit im Auftrag des Bundesamtes für Familie“ hat für „Schulverweigerer“, „-schwänzer“ und „-abbrecher“, ein „Programm“ namens „2. Chance“ gestartet, mit dem sie diese Versager „auffangen“ und wieder „ins Schulsystem integrieren“ will.

Trügerischer Entsorger

Die FAZ berichtete ausführlich über einen Bestatter namens Quasthoff, der eigentlich ein betrügerischer Leichenentsorger war und deswegen in Moabit vor Gericht stand. Er hatte die Urnen Verstorbener unter anderem ins Wuppertaler „DHL-Depot für unzustellbare Sendungen“ gestellt. Sein früherer Chef, ein „Discount-Bestatter in Köpenick“, der ihn angelernt hatte, war stets mit einem Kofferraum voller Urnen in die Schweiz gefahren, wo er sie in „stillen Forsten“ entsorgt hatte. Es gibt dort bei Zürich angeblich ganze Fluren voller Köpenicker, die nach der Wende starben – und irgendwie billig entsorgt werden mussten. Besagter Quasthoff nun will sich selbst eine „zweite Chance“ geben, wie er vor Gericht ausführte. Dazu habe er bereits „ein Fernstudium ‚Marketing und Controlling‘ in Stuttgart begonnen“.

Einen ähnlichen Fall vermelden die Medien aus den USA – ebenfalls unter der Überschrift „Zweite Chance“. Dabei geht es um den Bestsellerautor Jonah Lehrer, der sich in seinem Buch „Imagine“, das von den „Berufsgeheimnissen der Kreativen“ handelt, die „Weisheiten“ von Bob Dylan einfach ausgedacht hatte. Als das rauskam, rief sein Verlag das Buch aus den Läden zurück, er verlor seinen Job beim New Yorker und seine „Einnahmen als Intellektuellendarsteller im Vortragstourneezirkus“. Nun will ihn jedoch ein anderer Verlag erneut ins Rennen schicken – mit der Begründung: „Wir glauben an die zweite Chance.“ Jonah Lehrer soll einen weiteren „populärwissenschaftlichen Bestseller“ schreiben. Diesmal über die „Macht der Liebe“ – auf der „Basis verhaltenspsychologischer Erkenntnisse einerseits und autobiographischer Bekenntnisse andererseits“.

Auch der ehrliche Ingenieur Gustl Mollath bekommt eine zweite Chance, sein Fall wird neu aufgerollt: Er hatte Mitarbeiter der bayerischen HypoVereinsbank, darunter seine Ehefrau, wegen Schwarzgeldgeschäften angezeigt. Stattdessen wurde jedoch er wegen „schwerer Körperverletzung gegenüber seiner Frau, Freiheitsberaubung und Sachbeschädigung“ bestraft – und für sieben Jahre in eine Irrenanstalt gesperrt.

Keine zweite Chance bekam dagegen ein Angestellter des Kantons Zürich, den man entlassen hatte, weil er Aufträge an eine Firma vergab, an der er selbst beteiligt war. Seine Ehefrau hatte ihn angezeigt. Er machte geltend, dass er den Kanton dabei nicht geschädigt habe. Das Gericht wies nun jedoch seine Klage auf Wiedereinstellung ab – mit der Begründung, dass schon der Verdacht auf ein solches Vergehen ausreiche, um das „Vertrauen der Öffentlichkeit in ein unabhängiges staatliches Vergabewesen nachhaltig zu erschüttern“. Die Wiederholungsgefahr sei zudem groß, der Täter nicht einsichtig.

Fazit aus all diesen Fällen: Man muss verdammt einsichtig sein, damit Berlin einen liebt.