Weit entfernt von Konformität

CHINA Liao Yiwu legt neue Gespräche mit „Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft“ vor

In manchen Gesprächen erscheint China als allzu verrottetes Land, in dem es nicht nur in Sachen Nahrungsindustrie den Bach runtergeht

VON SUSANNE MESSMER

Eine der besten Geschichten ist jene von der Dongdong-Tänzerin. Dai Fengshuang war ursprünglich Arbeiterin. Als sie „freigestellt“ wird, versucht sie mit ihrem Mann alles, um durchzukommen. Doch dann erkrankt die Mutter an Krebs und die Familie muss Schulden machen. Dai Fengshuang wird Tänzerin in einem „Untergrund-Luderladen“, wie Liao Yiwu sie in seinem neuen Buch „Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch“ beschreibt – einer Bar, in der es schon beim Tanzen zu ersten sexuellen Dienstleistungen kommt.

Dai Fengshuang ist eine aufgeweckte Frau in den Vierzigern, die sich nichts vormachen lässt und den Härten der chinesischen Wirklichkeiten umstandslos ins Auge sieht. Ihr Stolz ist größer als das Selbstbewusstsein, das der chinesischen Arbeiterklasse lange Jahre von offizieller Seite angedichtet wurde. Am Ende des Gesprächs mit Dai Fengshuang zeigt sich Liao Yiwu gerührt. Er meint sogar, diese Tanzbar sei wohl „die letzte Nostalgiefront der Arbeiterklasse“.

Es sind Gespräche wie diese, in denen Liao Yiwu wieder zeigt, was er am besten kann: Auch jenen zuhören, die in der Selbstdarstellung Chinas auf dem Weg in die Moderne höchst selten Erwähnung finden. „Menschen vom Bodensatz der Gesellschaft“ hieß sein Erzählprojekt in China, das dort schnell nach Erscheinen verboten wurde. Mit einem Teil der Gespräche erlebte Liao Yiwu unter dem Titel „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ vor vier Jahren in Deutschland den Durchbruch: Er wurde als großartiger Dokumentarist gefeiert. Die schlagfertigen und klarsichtigen Klomänner, Kleinkriminellen und in Ungnade gefallenen Kader, die er da präsentierte, machten deutlich, wie sehr sich die gesellschaftliche Ausdifferenzierung in China heute von allem entfernt hat, was man konform nennen könnte.

Und wieder ist all das in Liao Yiwus neuem Gesprächsband vorhanden und zieht den Leser in einen Strudel aus Neugier. Man ist erneut beeindruckt, wie wenig Liao Yiwu in seinen Unterhaltungen auf Bestimmtes hinauswill und wie wenig er die Regeln der Oral History beachtet; wie sehr er sich auch einmischt und mit seinen Outcasts schäkert – eine Fähigkeit, die er wohl lernen musste, als er Anfang der Neunziger wegen unbequemer politischer Ansichten im chinesischen Gefängnis gefoltert wurde und mit Menschen ins Gespräch kam, die in ganz anderen Sphären unterwegs waren als er.

Und doch: Am Ende der Lektüre hinterlassen manche jener 30 neuen von insgesamt 300 Gesprächen, die Liao Yiwu in China geführt hat, einen winzigen schalen Nachgeschmack. Da ist zum Beispiel die Geschichte des ersten Kochs, des Sichuan-Kochs, in dem es um die berühmte Besessenheit vieler Chinesen geht, was die chinesische Küche angeht. Noch ist man ganz beschwingt von all dem Fachgeplänkel über die Entstehungsgeschichte einiger berühmter Gerichte – und schon kommt das nächste Gespräch, diesmal mit einem Restaurantbesitzer. Und da geht es weniger um Traditionen als um Probleme der Gegenwart: um gepanschtes Öl und um Fisch zum Beispiel, der mit menschlicher Kloake gefüttert wurde. China erscheint hier wie auch in anderen Gesprächen als allzu verrottetes Land, in dem es nicht nur in Sachen Nahrungsindustrie den Bach runtergeht.

Vergiftet, aber nicht nur

Wenn man dann noch aktuelle Interviews mit Liao Yiwu liest, in denen er sagt, er wollte die „eitrige Seite Chinas“ beschreiben, kommt endgültig ein ungutes Gefühl auf. Könnte es sein, dass Liao Yiwu nach seiner erzwungenen Ausreise nach Deutschland im Jahr 2011 inzwischen derart in seiner Rolle als Dissident aufgegangen ist, als „schärfster Kritiker Chinas“, als der er in Deutschland hofiert wird? Wäre es möglich, dass er diesmal in seiner Auswahl der Gespräche doch mehr beweisen will als zuvor, nämlich das, was Außenstehende ohnehin gern über China denken: Wie sehr sich das Land selbst vergiftet, was es ja auch tut, aber halt nicht nur?

Vielleicht ist das aber auch Quatsch; ein Misstrauen, inspiriert von den chinesischen Autoren in China, die heute nur noch die Augen verdrehen, wenn sie wieder einmal hören, Liao Yiwu werde im Ausland als „Stimme seiner Generation“ gehandelt – ein Verdacht, entstanden vielleicht auch durch Liao Yiwus öffentlichkeitswirksame Beschimpfung seines chinesischen Schriftstellerkollegen Mo Yan, als dieser den Nobelpreis bekam. Damals wirkte Liao Yiwu einen Moment lang wie ein selbstgerechtes Kind, das Äpfel an Birnen maß, nämlich seine eigene, naturgemäß völlig unbefangene Literatur mit der eines Autors, der ebenso scharfe Kritik auf höchstem literarischen Niveau übt, nur eben innerhalb des Systems.

So oder so: Es gibt in „Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch“ genug Gespräche, deren Witz und Charme an den ersten Gesprächsband Liao Yiwus anknüpfen kann: das mit dem Nichtstuer, der Amme, der Lesbierin etwa. Man kann dieses Buch nicht schlecht finden. Wahrscheinlich muss Liao Yiwu nur etwas aufpassen. Er sollte versuchen, aus dem Kopf zu bekommen, was seine deutschen Leser von ihm erwarten könnten.

■  Liao Yiwu:

„Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 490 Seiten, 24,99 Euro