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Unendlicher Tanzspaß

TANZ Rettungsdecken und untote Artisten: Das unkuratierte Mini-Festival „Ausufern“ lässt die Energie der Berliner Szene in alle Richtungen fließen. Der Stadtraum wird dabei Teil der Aufführung

Die Performance wirbelt die eigenen Vorstellungen von drinnen und draußen, Entscheidung und Zufall, konkreter Örtlichkeit und gleichzeitiger Parallelwelt beglückend durcheinander

VON FRANZISKA BUHRE

Die Berliner Tanzszene präsentierte sich am letzten Tag der Jubiläumsausgabe von „Tanz im August“ so gewohnt wie erfrischend mit einem schier überbordenden Programm. Ihre Plattform „Ausufern“ ist eine Weiterentwicklung der „Tanznacht Berlin“, die 2012 zum ersten Mal unter dem Dach des großen Festivals stattfand. Die Uferstudios sind seit ihrem Einzug auf das Areal der ehemaligen BVG-Werkstätten im Wedding vor fünf Jahren Gastgeber der Tanznacht. Für „Ausufern“ kooperieren die Uferstudios mit den anderen Tanzproduktionsstätten vor Ort: dem Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz, der Tanzfabrik, dem ada Studio und dem Tanzbüro Berlin. Weil sich dieser Zusammenschluss als Partner der Tanzschaffenden versteht, ist das Programm mit mehr als 40 Beiträgen an vier Tagen nicht kuratiert. Eine echte und um so bemerkenswertere Ausnahme in der von professionellen Programmgestaltern nur so wimmelnden Tanzszene.

„Die Künstler haben seit einiger Zeit die Nase voll von Kuratoren“, meint Gabi Beier, Leiterin des ada Studio. „Sie selbst wissen inzwischen viel besser, was sie brauchen.“ Bei „Ausufern“ spart man sich also den Umweg über die zwischengeschaltete Instanz und lädt die Besucher direkt als Zuschauer, Komplizen und sogar Mitwirkende ein. Was auch immer in den Studios entsteht, auf den weitläufigen Hof oder in die angrenzenden Straßen wuchert, kurzzeitig hier Station macht oder schon Eindruck hinterlassen hat – das Gelände und seine Möglichkeiten stiften sowohl zu Kooperationen, als auch zu kühnen Experimenten an.

Zuerst geht es weg vom Gelände. Über die Badstraße und das Flüsschen Panke in ein Gebäude der Bibliothek am Luisenbad. Tian Rotteveel empfängt die Zuschauer im zweiten Stock an einem hohen, drei Meter langen Holztisch. In wenigen Augenblicken breitet er vor sich eine ganze Welt in Miniatur aus, und zwar mit Gegenständen und ihnen zugeordneten Geräuschen. Den exakt auf seine Bewegungen über die Tischplatte abgestimmten Soundtrack hat der junge Niederländer selbst zusammengestellt. Ein Geigenton so lang wie der Faden, den er auf den Tisch legt, ein Donnergrollen, wenn die Hand über der kleinen Topfpflanze zittert oder wenige Anschläge auf Klaviertasten, während Rotteveel mit Kreide Hügel und Häuser, eine Brücke und die Wellen des Wassers darunter zeichnet: Gebannt hört und sieht man einen merkwürdigen kleinen Zauberladen entstehen.

Eine glänzende Schachtel birgt den Wegweiser zur nächsten Station der ortsspezifischen Performance, eine Rettungsdecke an einem roten Faden. Rotteveel zieht sie mit sich hinaus und die Zuschauer drehen sich automatisch um. Von oben sieht man ihn nun als Fahnenträger auf dem Hof umherlaufen, ein dort sitzender Zeitungsleser schaut erst irritiert und geht dann seines Weges. Der öffentliche Raum wird Teil der Aufführung und die Grünfläche zum Bildhintergrund. Rotteveel läuft über den Rasen aus dem, und wieder in das Blickfeld hinein, mit, also doch, dem Zeitungsleser. Zur sentimentalen Musik eines Filmabspanns verschwinden beide um die Ecke. „Propellor“, so der Titel der Performance, wirbelt die eigenen Vorstellungen von drinnen und draußen, Entscheidung und Zufall, konkreter Örtlichkeit und gleichzeitiger Parallelwelt beglückend durcheinander.

Etwas Unbestimmbares dringt in die Ordnung einer Paarbeziehung ein, die Hyoung-Min Kim und Tommi Zeuggin in „Everything Else“ zeigen. Die Uraufführung folgt einer im Tanztheater häufig angewandten Dramaturgie: eine Reihe Szenen mit Alltagsbezug wie dem An- und Ablegen von Kleidungsstücken, die wortlose Verständigung auf einen Platz im Raum oder das Einschenken eines Drinks, wechseln mit Passagen, in denen die Tänzer miteinander ringen, etwas Unsichtbares entdecken oder sich am Boden winden. Am Ende bestimmt die Verzerrung das Geschehen und so geraten die berührenden Momente der starken Bühnenpartnerschaft leicht in Vergessenheit.

Ami Garmon und Frank Willens liefern sich und dem Publikum in „Close your eyes and add a touch of nothing (step 1)“ eine denkwürdige Materialschlacht. Im etwas heruntergekommenen Kesselhaus der Uferstudios kommen Gummireifen, Gymnastikbälle, Holzbretter, Musikinstrumente aus Metallteilen, ein riesiger Flokatiteppich, Seile, Obst, Regenschirme und Leitern zum Einsatz. Willems erklimmt Wände wie ein untoter Artist, Garmon fordert Zuschauer mit Nachdruck zu gemeinsamen Aktionen auf. Beide mixen abenteuerliche Drinks, singen unter Heliumgas mit Mickymaus-Stimme und lassen sich ausgiebig mit Wasser beregnen. Ihr gewaltiger Energieüberschuss ist atemberaubend – „step 2“ wird am selben Ort im November zu sehen sein.

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