LOKALPROMINENZ, TOD UND SURFERBOYS SIND DAS THEMA BEI HELENE HEGEMANNS LESUNG IM HIPSTERCONTAINER ST. AGNES
: Die Vorlesegeschwindigkeit ist zu hoch

VON LEA BECKER

Freitagabend, ich bin auf dem Weg nach Kreuzberg, wo Helene Hegemann zum ersten Mal aus ihrem neuen Roman „Jage zwei Tiger“ lesen wird. Für die Buchpräsentation hat sich der Verlag die ehemalige Kirche St. Agnes ausgesucht, in der momentan so ziemlich alles präsentiert wird, was es eben so zu präsentieren gibt. Als ich mit meinen Begleiterinnen vor dem brutalistischen Ex-Sakralbau eintreffe, gibt die Autorin Sibylle Berg, der ich auf Twitter folge, ohne je ein Buch von ihr gelesen zu haben, gerade einem ZDF-Team ein Interview.

Helene Hegemann wuselt aufgeregt zwischen den Gästen herum, umarmt manche, küsst andere und scheint sich ehrlich zu freuen, dass alle da sind. Hegemann ist kleiner, zierlicher und hübscher, als es auf Pressefotos den Anschein hat. In ihrer offenkundigen Aufregung wirkt sie wie eine Schülerin kurz vor der mündlichen Abiturprüfung. Dreieinhalb Jahre sind vergangen, seit ihr erster Roman erschien, für den die damals Siebzehnjährige erst gefeiert, dann geächtet wurde. „Jage zwei Tiger“ wird einen Ruf zementieren: den der Überfliegerin oder den der Gescheiterten. Sollte sich das heute entscheiden, will man gefälligst dabei sein. Entsprechend gut besucht ist der Veranstaltungsort.

An der Bar werden Importbier und Riesling ausgeschenkt, daneben smalltalken Heinz Strunk und Moritz von Uslar. Ein paar Meter weiter steht eine ehemalige Darstellerin der Kinderkanal-Serie „Schloss Einstein“ rauchend in der Ecke. „Katja Riemann ist da“, stellt meine Begleitung im Tonfall einer makabren Pointe fest. Ich frage mich, ob ich mich vielleicht etwas besser hätte anziehen müssen, und dann, ob Katja Riemann und Helene Hegemann wohl befreundet sind und ob sie manchmal über Shitstorms plaudern oder dieses Thema doch lieber meiden.

Als Katja Riemann die erste Reihe erreicht und Platz genommen hat, beginnt die Lesung oder Prüfung oder wie man das eben nennen will. Hegemanns beeindruckendes Vortragstempo und die Kirchenakustik vermengen sich zu einem Sprachbrei, aus dem sich gelegentlich Wörter wie „Powerfrauen“, „Scheiße“, „Borchardt“, „kacke“, „Lokalprominenz“, „Tod“, „Surferboys“ und „guter Move“ absetzen. Nach etwa einer Minute, in der die Autorin bereits gefühlte fünfzehn Seiten Text heruntergerattert hat, schreit irgendwer von hinten laut: „Langsamer!“ Die Autorin sieht plötzlich noch jünger aus, als sie ist, entschuldigt sich mehrfach und erklärt, schon in der Grundschule Probleme mit ihrer Vorlesegeschwindigkeit gehabt zu haben. Langsamer liest sie dann aber trotzdem nicht.

Den nächsten Textabschnitt trägt der Schauspieler Lars Eidinger vor, dann wieder Hegemann. Nach einer halben Stunde ist noch immer nicht ganz auszumachen, worum es in dem Buch nun eigentlich geht. Irgendwas mit einarmigen Teenagern, die in Venedig mit Drogen handeln, und einer toten Mutter halt. Der letzte Textabschnitt handelt von einer „Behindi-Party“ in Worms, auf der sich alle Gäste die Hosen vollpinkeln, weil auf der Toilette ein Behindertenaufsatz angebracht ist. Hegemann liest jetzt doch ein bisschen verständlicher, das Publikum lacht, die Autorin bedankt sich. Dann ist die knapp einstündige Lesung auch schon wieder vorbei und Hegemann sichtlich erleichtert.

Beim Hinausgehen entdecke ich den Scooter-Sänger H.P. Baxxter in der Menge, den ich hier nun wirklich nicht erwartet hätte. Nachdem ich ihm eine Weile hinterhergetrottet bin, entpuppt sich H.P. Baxxter als Siebzehnjähriger mit ironischer Frisur, und wir genehmigen uns einen letzten Wein.