Der Egomat

SPIEL Er macht Sozialdemokraten zu Kommunisten und Grüne zu christlichen Fundis. Der Wahl-O-Mat zeigt uns ein Ich, dass wir gar nicht kennen wollen

VON ARNO FRANK

Wer wissen will, was er am 22. September wählen soll, der hätte sich das eine Legislaturperiode lang überlegen können. In vier Jahren lassen sich die Ergebnisse der regierenden und die Forderungen der oppositionellen Parteien bequem studieren. Wer dazu keine Lust hatte, dem hilft seit 2002 der Wahl-O-Mat. Hier dauert es nur runde vier Minuten, die 38 Fragen gewissenhaft zustimmend oder ablehnend zu beantworten – und die Anwendung spuckt jene Parteien aus, deren Programm sich mit meiner Meinung am ehesten decken. Auch empfiehlt es sich, andere Angebote wie den wesentlich präziseren ParteieNavi von der Universität Konstanz zu nutzen. Oder sich vom satirischen National-O-Mat den Grad der eigenen Verrohung ermitteln zu lassen („Asylbewerber sind billige Arbeitskräfte und können ausgebeutet werden wie damals die Neger“).

Der Wahl-O-Mat aber wurde allein in diesem Wahlkampf bereits mehr als fünf Millionen Mal zu Rate gezogen. Absolute Mehrheit. Und die Ergebnisse sind oft so überraschend, dass sie freudig „geteilt“ werden. Deshalb fluten derzeit „total verrückte“ Wahl-O-Mat-Ergebnisse die sozialen Netzwerke. Ich beispielsweise hätte nie für möglich gehalten, dass mir die NPD noch näher steht als Union und FDP. Oder dass ich, der automatisch ermittelten Empfehlung folgend, bei den Satirikern der PARTEI mein Kreuz machen müsste, dicht gefolgt von der Linken und den Piraten. Zwar kommt bei jedem neuen Durchgang mit geringfügig anderen Gewichtungen jeweils ein völlig anderes Ergebnis heraus.

Trotzdem stellt sich ein nicht unproduktives Gefühl der Entfremdung ein. Menschen, die sich jahrelang für Sozialdemokraten hielten, sehen sich von einem Computer plötzlich als Kommunisten entlarvt. Und wer bislang mit den Grünen sympathisierte, dem wird auf einmal eine geistige Nähe zur Partei bibeltreuer Christen bescheinigt. Warum gibt es keinen Automaten, der mir beispielsweise das Nichtwählen nahelegt? Wie sicher sind meine Überzeugungen? Womit stehen, womit fallen sie? Wer bin ich – und wenn ja, für wen?

Insgesamt hatten die Redakteure des Wahl-O-Mat 85 Thesen an die Parteien verschickt und all jene herausgefiltert, bei denen sich die Antworten nicht hinreichend unterschieden. Die 38 Fragen unterliegen einer Software, die im Grunde nichts anderes tut, als für mich die Wahlprogramme zu scannen. Davon entbinden kann sie mich nicht. Es ist auch durchaus fragwürdig, ob höchst zerbrechliche Versprechungen die Grundlage einer Entscheidung sein sollten – oder auch nur ein Anlass, die Wahlprogramme genauer zu studieren.

Der Wahl-O-Mat und vergleichbare Angebote sind ein schöner Zeitvertreib, ein Spiel mit dem Ich. Eine Verführung zum politischen Denken, das schon. Aber eben auch nur Automat für Automaten, die sich wie gewöhnliche Konsumenten durch einen Meinungskatalog klicken und am Ende eine Partei in den „Warenkorb“ legen lassen wollen. Ein Algorithmus kann genau das nicht erfassen, worum es bei einer solchen Wahl geht. Und das ist Haltung.

Wenn die Selbstprognose missglückt, wie soll es da erst mit der Fremdprognose aussehen? Über die Demoskopie SEITE V