KLAUS HILLENBRAND ÜBER DIE NEUEN NS-VERFAHREN
: Mörder – auch mit 90

Ein Menschenalter nach dem Ende des Nazi-Regimes wollen die Ermittlungen gegen die Täter nicht enden. Diesmal sind es fast 40 Wachmänner des Vernichtungslagers Auschwitz, die in die Fänge der Justiz geraten sind.

Aber ist es richtig, dass Greisen im Alter von weit über 90 Jahren eine Haftstrafe droht?

Mord verjährt nicht. Dieses Rechtsprinzip hat die Bundesrepublik erst nach langen Auseinandersetzungen gerade über die Straftaten der NS-Täter eingeführt. Aus gutem Grund: Warum sollten die Täter einer Bestrafung entkommen, nur weil sie sehr alt geworden sind?

Bei einem Strafprozess geht es nicht um Rache, sondern um Sühne für begangene Verbrechen. Warum sollte diese Sühne ausfallen, nur weil es den Tätern gelungen ist, sich über Jahrzehnte verborgen zu halten? Etwa als Belohnung? Und selbstverständlich gilt, dass wer nicht mehr verhandlungsfähig ist, auch nicht mehr vor Gericht gestellt werden kann. Die neuen Ermittlungen können aber nicht verdecken, dass die juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen in der Bundesrepublik über Jahrzehnte eine Geschichte von Wegschauen und Versagen war. Bestenfalls die Schreibtischtäter wurden verfolgt, und auch diese mit einer Langmut, die sich nur dadurch erklären lässt, dass kein einziger NS-Richter jemals für seine Unrechtstaten büßen musste.

Die „kleinen Täter“, die eigentlichen Mörder, aber ließ man häufig bis ins 21. Jahrhundert unbehelligt, solange man ihnen keinen ganz konkreten Mordvorwurf machen konnte. Dass diese Männer jetzt von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden, ist ein zivilisatorischer Fortschritt. Er kommt zu spät. Aber besser als nie.