berliner szenen Loch im Panzer

Lottmann liest

Ein jeder hat bekanntlich sein Leben ganz zu leben. Ein jeder – aber wie ist das bei Joachim Lottmann? Ist er jetzt zufrieden mit sich? Jetzt, wo er in der Bestsellerliga gehandelt wird. Wo er im Spiegel das Theater runtermachen darf und das 103 zum Nabel der Welt hochschreiben. Wo er es endgültig dazu gebracht hat, dass die Leute seine Texte lesen, obwohl diese Texte ihrem Autor selbst so erkennbar scheißegal sind.

Klar hat er jetzt für immer seine Rolle. Aus der er nie mehr rauskommt, die er ganz zu leben hat. Denn der großliteraturdekonstruierende Impuls, der ihn eine Zeit lang als Gegenentwurf zum geniegläubigen Literaturbetrieb interessant machte, der hat sich totgelaufen. Seine Schrulligkeiten kennt man; die Empörungsfallen, in die er einen locken will, wittert man aus drei Kilometern Abstand. Die Welt also hat sich abgefunden mit Joachim Lottmann (und das allgemeine Bashing seines Theaterartikels ging sowieso eher gegen Matussek). Aber wird sich Lottmann auch damit zufrieden geben können: damit, den Literaturclown für ironiebereite Kreativitätsdarsteller abzugeben?

Von der Lesung am Montag in der nbi, von dem man sich Aufschluss erhofft hatte, ist nicht mehr zu sagen, als dass erfahrene Lottmann-Exegeten einem hinterher versicherten, es habe auch schon wirklich einmal gute Lesungen von ihm gegeben. Wirklich geglaubt hat man ihnen nicht. Aber eine Viertelstunde vor der Lesung hatte er gegenüber der nbi auf einer Treppe gesessen, in sein neues Buch geblickt und sich selbst seinen Text laut vorgelesen. Da war ein Loch im Lottmann-Panzer gewesen. Ausgeschaut hatte es, als müsse sich Lottmann selbst dazu überreden, den Lottmann zu geben.DIRK KNIPPHALS