Todesstern Tschernobyl

Ob in der Sperrzone um den Reaktor oder in der Altstadt von Havanna: Die Bilder des kanadischen Fotografen Robert Polidori verbinden das Katastrophische mit dem Ästhetischen. Im Martin-Gropius-Bau ist jetzt eine Auswahl seiner Arbeiten zu sehen

VON MARCUS WOELLER

Verlassen liegt die Häuserzeile da. Wohnblock reiht sich an Wohnblock. Den Weg zwischen den Plattenbauten erobert sich die Natur zurück. Sträucher wuchern, Gras und Unkraut breiten sich aus. Von Menschen keine Spur. Nichts Verwunderliches im Zeitalter schrumpfender Städte in Osteuropa. Doch hier fand die Schrumpfung schneller statt – im Verlauf von wenigen Stunden und Tagen. Pripjat wurde aufgegeben, zwangsgeräumt. Denn Pripjat liegt in der Todeszone, im radioaktiv verseuchten Gebiet um Tschernobyl.

Der kanadische Fotograf Robert Polidori hat vor fünf Jahren die Geisterstädte und das Atomkraftwerk in der Ukraine besucht. Vor ihm waren schon die Plünderer gekommen und hatten sich ausgiebig bedient – Becquerel hin, Gammastrahlung her. Danach wurde das Gebiet gesperrt. Es kostete Polidori einiges an Geduld, Bittbriefen, Empfehlungsschreiben und wahrscheinlich auch Bestechungsgeldern, um die Bürokratie zu überzeugen, die verstrahlten Räume für ein Fotoprojekt zu öffnen. Was er dann vorfand, war ein stillgelegtes Chaos: Zerstörte Klassenräume und ramponierte Behandlungszimmer, aber auch Zeugnisse der Flucht.

Der 1951 in Montreal geborene Robert Polidori, dessen Arbeiten derzeit als Europa-Premiere im Martin-Gropius-Bau gezeigt werden, ist beides: Katastrophenfotograf und Ästhet. Das schließt sich deshalb nicht aus, weil er die menschliche Tragödie nie direkt abbildet, eher lagert sie wie ein unsichtbarer Index hinter den Bildern. So nimmt Polidori die Architektur des Atomkraftwerks und der umgebenden Gebäude wie ein Fossil der Zeitgeschichte wahr. Die oberflächliche Schönheit umweht doch eine Ahnung des Grauens, wenn die Wandfarbe der Kindergärten und Krankenhäuser von Pripjat aufplatzt und abblättert, als wäre sie von der Strahlenkrankheit betroffene Haut. Der Kontrollraum des Reaktor-Blocks 4 streckt sich in ein Halbrund aus Konsolen, Anzeigentafeln, hunderten von Reglern und tausenden von Informationslämpchen. Am 26. April 1986 haben sie durch wildes Flackern die Überhitzung des Reaktorkerns wohl noch angezeigt. Heute liegt die Schaltzentrale menschlichen und technischen Versagens im Halbdunkel, wie die heruntergekommene Kommandobrücke eines altmodischen Science-Fiction-Filmsets.

Nur selten zeigen Polidoris Bilder Menschen. Wenn, dann stehen sie oft einfach stumm fragend da. Wie etwa der Apotheker vor seinen leeren Regalen, den Polidori 2002 bei einem Aufenthalt in Havanna fotografiert hat. Dass die sozialistische Revolution noch lange weiterlebt, wie es die Inschrift am Verkaufstresen fordert, bleibt eine zynische Hoffnung. Ohnehin fokussiert Polidori auf die alte Pracht der Innenräume. Aber auch hier bröckelt der Putz und modert der Stuck, ohne dass eine radioaktive Wolke durch die Stadt gefegt wäre. Es sind keine Bilder der Verwahrlosung, sondern Dokumente der Aufrechterhaltung des privaten Lebens im Angesicht seiner ökonomischen Unmöglichkeit.

Dem gegenüber stehen die Fotografien von der Restaurierung des Schlosses in Versailles. Ganze Zimmerfluchten werden neu bespannt mit Samttapeten. Vergoldungen werden nachgebessert. Wandgemälde zeugen von militärischen Siegen. Zahllose Räume ohne Aufgabe erstrahlen im neuen Glanz der eigenen Repräsentation. Gegen den Inbegriff von absolutistischer Anmaßung hatte einst die berühmteste Revolution der Geschichte opponiert. Aus Gründen der Denkmalpflege und der Erinnerung an die Vergangenheit wird hier das Symbol nun konserviert. Auch das kann man zynisch nennen.

Polidori arbeitet fast ausschließlich mit Großformatkameras. Durch lange Belichtungszeiten von bis zu 30 Sekunden gelingt es ihm, nur mit dem Umgebungslicht die Farben zu intensivieren. Realistisch und doch überzeichnet kommunizieren die Räume über ihre mitunter extreme Farbigkeit. Wenn Polidori allerdings die Interieurs verlässt und etwa die kubanische Kulisse des Stadtstrands vor sturmgepeitschtem Meer und dramatischem Wolkenhimmel aufnimmt, bewegt er sich am Rande des Postkartenkitsches. Mit seinen Interieurs verstört er dagegen die Betrachter, indem er sie die Ästhetik des Gesehenen mit dem abgleichen lässt, was sie über den Ort der Bilder wissen.

Robert Polidori: Fotografien, bis 26. 6., Mi.–Mo., 10–20 Uhr, Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7