poltergeist von JOACHIM SCHULZ
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Theo und ich trafen Nico zufällig vorm Café Gum. Anders als früher machte unser alter Freund keinen sehr entspannten Eindruck. „Es klingt unglaublich“, erzählte er uns, „aber seit einer Woche geht bei mir in der Wohnung ständig irgendwas ohne ersichtlichen Grund in die Brüche. Es fing damit an, dass ich am letzten Mittwoch im Wohnzimmer fünf zerbrochene Blumentöpfe vorfand, die in meiner Abwesenheit von der Fensterbank gestürzt sein mussten. Am nächsten Abend fiel die Küchenuhr von der Wand. So ging es Tag für Tag weiter: Das Waschbecken im Bad zersprang, mein Bücherregal kippte um, der große Wechselrahmen mit dem Modigliani-Druck krachte zu Boden. Wisst ihr, was ich vermute?“ – „Verrat’s uns“, sagte ich. „Dass es ein Poltergeist ist!“ „Ein – was?!“ – „Jawohl“, sagte Nico: „Wahrscheinlich ist in dieser Wohnung vor zwanzig Jahren ein fürchterlicher Mord passiert. Jetzt ist der Ermordete zurückgekehrt, um sich zu rächen. Er kann ja nicht wissen, dass der abgefeimte Verbrecher mittlerweile ausgezogen ist.“ Theo zog eine Augenbraue hoch, und es war klar, dass er überlegte, Nico stante pede in die psychiatrische Notfallambulanz zu schaffen.

Fürs Erste aber beschlossen wir, uns selber ein Bild von der Sache zu machen. „Gute Güte, wie sieht’s denn hier aus?!“, rief ich, nachdem wir seine Wohnung betreten hatten. In allen Zimmern lagen Trümmer und Scherben. „Warum räumst du nicht auf?“, fragte ich. „Ich hab’s ja versucht“, sagte er und zeigte auf sein demoliertes Bücherregal, „zwei Tage aber nachdem ich das Regal wieder aufgestellt hatte, ist es erneut umgestürzt.“ Theo nahm mich beiseite. „Vermutlich ein Fall von schlimmer Persönlichkeitsspaltung“, flüsterte er: „Wenn er einen Schub kriegt, tobt er durch die Wohnung und wirft das Regal um. Ist er dann wieder bei Sinnen, steht er ratlos vor den Trümmern.“

In diesem Augenblick vernahmen wir einen Knall. Wir eilten in den Flur und entdeckten, dass der Schuhschrank umgekippt und zerborsten war. „Potzblitz“, staunte Theo, „das ist …“ Ein Knirschen unterbrach ihn. Sekundenbruchteile später sauste die Deckenlampe zu Boden und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Sprachlos starrte er auf die Scherben, und Nico hauchte: „Da seht ihr’s! Ich hoffe, ihr glaubt mir jetzt!“

Als Theo sich von seinem Schrecken erholt hatte, entschied er, dass wir die Wohnung schleunigst verlassen sollten. „Und ich?“, sagte Nico ängstlich. „Du?“, sagte Theo, „du kommst mit. Ich quartiere dich vorübergehend bei mir ein und helfe dir bei der Suche nach einem neuen Domizil. Eins aber schreibst du dir bitte hinter die Löffel: Wenn du irgendjemandem erzählen solltest, dass ich dir geholfen hätte, vor einem Poltergeist zu fliehen, kriegst du dermaßen Ärger, dass dir dein Gespensterspuk dagegen wie ein harmloser Schabernack vorkommen wird!“ Und Nico nickte eifrig.

Ein paar Tage später wurde das Haus, in dem Nicos Poltergeistwohnung lag, geräumt. Wir entnahmen der Zeitung, dass sich die Bewohner seit mehr als einer Woche über ein seltsames Schwanken und Knirschen der Wände gewundert hätten. Jetzt, hieß es weiter, habe ein Gutachten ergeben, dass das Gebäude akut einsturzgefährdet sei.