Vom Schatten einer Reise

STAATSBESUCH Bundespräsident Joachim Gauck gedenkt in Frankreich der Opfer eines SS-Massakers. Und preist bei der gleichen Reise Deutschland als großartiges Vorbild zur Bewältigung der Eurokrise

VON AMBROS WAIBEL

Was hatte Angela Merkel sich angestrengt, ihn nicht über sich zu haben – und nun ist Bundespräsident Joachim Gauck ihr bester Mann: Mit seiner Frankreichreise hat er erneut unter Beweis gestellt, wie gut er sich mit der Kanzlerin ergänzt. Die Bilder seines Gedenkbesuchs in Oradour – als erster deutscher Bundespräsident – zusammen mit Frankreichs Präsident François Hollande und mit Robert Hédras, dem 87-jährigen Überlebenden des SS-Massakers, sind um die Welt gegangen: weil die Welt nicht vergessen will; und weil sie vor allem nicht will, dass die Deutschen vergessen.

Wer als Deutscher die Stätten des Terrors besucht und kein ausgewiesener Neonazi ist, wird sich der Scham, der Beklemmung und auch des Zorns über seine Väter, Groß- und inzwischen auch Urgroßväter nicht entziehen können. Und es wäre abseitig zu behaupten, „Entsetzen, Erschütterung und Demut“, die Gauck in Oradour, die er bei seinen vorhergehenden Besuchen im tschechischen Lidice und im italienischen Sant’Anna di Stazzema empfand, seien der routinierten Gedenkrhetorik des Politprofis entsprungen: Es ist schwer an diese Orte zu gehen, das soll es ja auch sein; und es liegt, wie bei Merkels kürzlichem Besuch in Dachau – als erste amtierende Bundeskanzlerin– nicht im Ermessen der Täter und ihrer Nachkommen, ob sie hier herkommen dürfen, sondern in dem der Vertreter der Opfer.

Die obersten Repräsentanten der Deutschen machen also keine schlechte Figur, wenn sie zurückschauen. Aber wenn nun der Blick wieder nach vorne geht – was sehen sie dann? „Ich repräsentiere ein anderes Deutschland“, sagte Joachim Gauck, und trotz NSU, NPD und national befreiter Zonen wird da kaum einer widersprechen. Doch der Bundespräsident hatte noch mehr im Gepäck für die Franzosen: Sein Besuch solle eine Ermutigung zu weiteren Reformschritten sein, sagte er.

Um was für Reformen mag es sich da handeln? Und wer will denn vor allem – während der deutsche Wahlkampf endlich das Thema Eurokrise nicht mehr totschweigt – erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung in der EU sehen, auf die Gauck verwies: Doch wohl Angela Merkel. „Die Anstrengungen lohnen sich“, sagte Gauck beim festlichen Abendessen in Paris. Aber für wen? Für die Beschäftigten im Billiglohnland Deutschland? Für die Franzosen, die der Unterbezahlung nacheifern sollen? Oder für diejenigen Volkswirtschaften in der EU, die das deutsche Modell erst mit ins Taumeln gebracht hat und das sie nun zynisch zum Totsparen ermuntert?

„If Germany’s economic model is the future of Europe, we should all be quite troubled“, so schrieb es jemand, der nicht evangelische Theologie studiert hat, aber von Wirtschaft was versteht: Alan Poser, Präsident des „Peterson Institute for International Economics“, in der Financial Times vom vergangenen Mittwoch. Lohndumping, sagt Poser sehr klar, ist die falsche Strategie, für Deutschland und für Europa. Was Gauck in Paris angenehm indirekt und wenig teutonisch polternd seinen Gastgebern mitgab, war: Macht es so wie wir. In Deutschland sei der Mut zu Reformen belohnt worden, auch die Arbeitnehmer hätten dabei nicht den Kürzeren gezogen.

Spätestens da wird dann aus einem Staatsbesuch eine Roadshow für Angela Merkel – und dass sich die SPD von diesem Bundespräsidenten trotzdem repräsentiert fühlen darf, macht die Sache nicht besser. Sie bietet schlicht, wie Wolfgang Münchau in seiner Kolumne für SPON schreibt, keine ideologische Alternative zur Merkel’schen Wirtschaftspolitik.

Und so fällt, zurückgewendet, doch ein Schatten auf Gaucks Besuch in Oradour: Wenn das neue Deutschland, das er beschwört und das er repräsentiert, eines ist, das taub und gefühllos bleibt für die nicht mehr zu überhörenden Warnungen vor seinem Kurs in der Krise; wenn die Rückschau nicht dazu ermahnt, auch das Heute sensibel in Frage zu stellen, sondern die eigene Großartigkeit zu preisen – dann wäre es sauberer gewesen, Vergangenheit und Gegenwart zu trennen: Frankreich ist ja durchaus auch zwei Reisen wert.