Die Wut entlädt sich

BRASILIEN Am Unabhängigkeitstag münden friedliche Proteste in Kämpfe mit der Polizei

RIO DE JANEIRO taz | Militärparaden zur Feier der Unabhängigkeit vor 191 Jahren prägen den 7. September in Brasilien. Seit vielen Jahren ist es auch der Tag des „Schreis der Ausgeschlossenen“. Dieser Samstag war ein Stelldichein der Protestbewegung, die im Juni mit Massendemonstrationen bessere öffentliche Dienstleistungen gefordert hatte.

In über 130 Städten folgten Zehntausende der Mobilisierung in den sozialen Netzwerken. Gruppen wie die Internetaktivisten Anonymous riefen zu einem „Schwarzen September“ auf. Der Protest sollte sich gegen Politiker, hohe Lebenshaltungskosten und Polizeigewalt richten. Fast überall mündeten friedliche Demonstrationen in Konfrontationen mit der Polizei.

In Rio de Janeiro stürmten einige hundert Demonstranten in den frühen Morgenstunden die Militärparade. Die Polizei reagierte mit Tränengasgranaten. Auch in der Hauptstadt Brasilia, wo Präsidentin Dilma Rousseff an der Parade teilnahm, kam es zu Tumulten im Regierungsviertel. In der Metropole São Paulo kam es zu Ausschreitungen, Autos wurden angezündet und Fensterscheiben in Geschäftsvierteln eingeworfen. Landesweit wurden über 250 Demonstranten festgenommen.

Anlass zum Protest gibt es genug. Von den Reformen, die die Regierung nach den Juni-Protesten ankündigte, ist bislang nur äußerst wenig zu spüren. Die große Reform des Systems, die Rousseff ebenfalls angekündigt hatte, blieb im Intrigenspiel von Koalitionsparteien und Opposition stecken.

Zwar wurden die Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr zurückgenommen und wurde mehr Geld für Gesundheit und Bildung bewilligt. Doch die Untersuchungskommission, die etwa in Rio de Janeiro die korrupten Machenschaften der Transport-Mafia durchleuchten sollte, wurde von der lokalen Regierungspartei schlicht gekidnappt. Trotz tagelanger Besetzung des Rathauses durch Aktivisten sitzen jetzt nur Abgeordnete im Ausschuss, die von Anfang an gegen die Untersuchung gestimmt hatten. ANDREAS BEHN