Abreibungskunst

Das Haltbarkeitsfeuilleton schlägt zurück: Ein Kultur- und Richtungsstreit in der Literaturkritik, ausgelöst durch Volker Weidermanns Buch „Lichtjahre“

von GERRIT BARTELS

Es war eine eigentümliche Veranstaltung, die neulich im Literarischen Colloquium in Berlin stattfand; eine Veranstaltung, die im Moment im Literaturbetrieb und speziell in den Cheffeuilletons ein bei näherer Betrachtung gar nicht mehr so eigentümliches Nachspiel hat. Es geht um die Definitionsmacht in Sachen Literaturkritik, darum, wer die richtige, wahre, erkenntnisfördernde Literaturkritik hier repräsentiert, die zeitgemäße Literaturkritik dort, vielleicht gar um einen Generationskonflikt.

Vorgestellt wurde an diesem Abend das Buch „Lichtjahre – eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute“ von Volker Weidermann – einerseits auf Einladung des Verlags Kiepenheuer & Witsch, in dem das Buch erscheint, andererseits im Rahmen des Studio LCB, einer Literatursendung des Deutschlandfunks. Neben Weidermann und dem Moderator Hubert Winkels saßen auf dem Podium der SZ-Kritiker und Leiter des Kopenhagener Goethe-Institut, Christoph Bartmann, und der Zeit-Literaturchef Ulrich Greiner.

Es beging hier also ein Verlag eine Buchveröffentlichung, in der Regel eine feierliche Angelegenheit, und gleichzeitig wurde dieses Buch einer kritischen Inspektion unterzogen, wie es sich für eine Literatursendung wie dem Studio LCB gehört. Nun kennt man Studio-LCB-Sendungen, die nicht mehr als solide, ergiebige Buchvorstellungen sind, mit dem Autor wohlgesonnenen Diskutanten, so etwa bei Ingo Schulze. Die Inspektion an diesem Abend aber hatte es in sich. Wie sich herausstellte, hatte Weidermann die Herren Bartmann und Greiner gewissermaßen gegen sich. Sie fanden freundliche Worte für das Buch, gewiss, wussten aber selbst diese mit Gemeinheiten zu garnieren („nach der Lektüre habe ich angefangen zu denken“) und ließen sich bevorzugt über seine literaturkritischen Schwächen aus. Zu beiden gesellte sich der eigentlich zur Zurückhaltung verpflichtete Moderator Hubert Winkels, der mehrmals maliziös urteilte, was für ein guter Erzähler Weidermann sei – ein Lob, das Schriftsteller freut. Aber einen Literaturkritiker?

Der Tenor der Kritik: ein unterhaltsames, gut erzähltes, schnelles Buch; ein Buch aber, das Literatur nur biografisch begreift und Bücher höchstens nacherzählt, das also nur am Rande von Literatur und ihrer Verfasstheit handelt, ihrer Form, ihrer Sprache. Man kann „Lichtjahre“ so lesen, man muss aber in einem Buch, das 135 Autoren auf 320 Seiten abhandelt, auch keine große form- und sprachkritische Auseinandersetzung erwarten. Zumal Weidermann eingangs darauf hinweist, dass ihn Leben und Schreiben gleichermaßen interessiere, die Frage: „Was ist das für ein Mensch, der dieses Buch geschrieben hat?“

Offensichtlich war bei dieser „Buchvorstellung“, dass hier drei ältere Literaturkritiker, zwei Fünfzigerjahrgänge, ein Vierzigerjahrgang, dem 1969 geborenen Weidermann eine Abreibung verpassen wollten; dass hier einer, der in seinem taubengrauen Anzug und einem schönen fliederfarbenen Hemd nicht wie ein Punkrocker aussah, anscheinend das Establishment mit seinem Buch punkrockmäßig herausgefordert hatte. Und dass dieses zurückschlug, in dem es eine kleine Lehrstunde über die richtige Behandlung von Literatur erteilte, vor allem der großen, die vorhält, der kanonisierten. Alles auf die feine Art, durchaus, aber mit Genuss und nicht zuletzt weil Weidermann, ehemals taz-Redakteur, als einer von zwei FAS-Feuilletonleitern und FAS-Literaturexperte auch ein Konkurrent auf dem Markt und über die Deutungshoheit in Sachen Bücher und Literatur ist.

Man hätte es dabei belassen können. Es war was geboten worden, die Kritiker hatten ihren Auftritt, Weidermann hatte seine Feuertaufe irgendwie bestanden, in so einer missgünstigen Runde würde er so schnell nicht wieder sitzen, und auch Maxim Billers Beschimpfung des Moderators Hubert Winkels an diesem Abend, „Du bist doch ein richtiges Arschloch, drei gegen einen“, hätte man als kollegiale Inschutznahme bewerten können.

Nur ist es dieser Tage so, dass die drei vom Studio LCB noch nicht genug hatten und ihre mündliche Rede in schriftlicher Form nachholen, so Christoph Bartmann Dienstag in der SZ und Hubert Winkels und Ulrich Greiner in der neuen Zeit. Es mag sich anbieten, einmal Gelesenes doppelt medial zu verwerten. Es verwundert aber, da Weidermanns Buch, das vor zwei Wochen erschien, kein Buch ist, das zu den Entdeckungen oder den Mussbüchern des Frühjahrs gehört, keines, das etwa auf der Sachbuchliste des Leipziger Buchpreises stand oder die Nachkriegsliteraturgeschichte neu schreibt.

Nein, Weidermanns Buch reiht sich erst mal ein in die Vielzahl der zuletzt vorgenommenen Nachkriegsliteraturkanonisierungen, etwa das „Deutsche Lesebuch 1945–2003“ von Niemann/Rathgeb, Helmut Böttigers „Nach den Utopien“ oder Thomas Krafts „Schwarz auf weiß“. Es sind dies Bücher, die zur Kenntnis genommen werden, mal freundlich, mal weniger freundlich, in der Regel am Rande und irgendwann in der Saison. Weidermanns Buch aber bekommt veröffentlichungsnahe Premiumplätze in SZ und Zeit, was ihn ehren müsste, selbst große Verrisse sind ja besser als überhaupt keine Erwähnung.

Die schnelle, konzertierte Reaktion deutet aber auf mehr: Die alteingesessene Literaturkritik bezieht Stellung und führt einen Kampf gegen die nachrückende Generation und deren Literaturvermittlung. Ja, sie spricht von „Kulturstreit“ (Zeit), den sie allerdings selbst vom Zaun bricht, nicht Weidermann, schon gar nicht sein Buch. Dieser Kulturstreit ist einer zwischen dem Haltbarkeitsfeuilleton, also dem von Greiner/Bartmann, und dem Feuilleton neueren Typs, einem Pop- oder Unterhaltungsfeuilleton, wenn man böse sein will auch: Trommelfeuilleton, für das Weidermann, die FAS und neuerdings auch der Kulturteil des Spiegels unter Matthias Matussek und Joachim Lottmann stehen. Dazu erkennt man immer noch Spuren des Unbehagens an der eigentlich für tot erklärten Popliteratur, einen Kampf der Verfechter und Verehrer von Literatur, die noch in 30 Jahren was hermacht, gegen die Popschnelldreher, die nur für den Augenblick geschrieben sind, die ganze klägliche „Ich und meine Welt“-Prosa.

Bartmanns und Greiners Verrisse sind legitim. Ihr zeitlicher und argumentativer Gleichkang fällt auf, und mit Winkels’ Text über „eine Spaltung im deutschen Literaturbetrieb und wozu sie gut ist“ wird daraus ein Richtungsstreit. Aufgehängt an Billers Beschimpfung unterscheidet Winkels zwischen „Emphatikern“ und „Gnostikern“. Erstere sind die „Leidenschaftssimulanten und Lebensbeschwörer“ des Literaturbetriebs, also Biller, Weidermann, die FAS, Schirrmacher, der späte Reich-Ranicki, Pop. Die Gnostiker sind für ihn die, „denen ohne Begreifen dessen, was sie ergreift, auch keine Lust kommt; die sich sorgen, falschen Selbstbildern, kollektiven Stimmungen, Moden und Ideologien aufzusitzen“. Namen für die Gnostiker nennt Winkels nicht, aber er meint seine Kollegen und die Jirgls, Roths, Beyers, Marons etc. auf Autorenseite.

Es leuchtet ein, wie Winkels das aufbereitet, wie er zwei Fraktionen in Stellung bringt. Doch mit einem Mal wechselt er die Rolle, bemüht er sich um Ausgleich, schlussfolgert er, dass die Emphatiker doch auch die Gnostiker als empathisch verstehen und die Gnostiker ruhig auch mal Fauser, Schröder oder Goetz lesen sollen. Ja, das finden wir auch, gute Idee. Was soll dann bloß die von ihm diagnostizierte „Aufregung“? Der Übertreibungsfuror, das Immer-Erster-Sein der FAS enerviert zuweilen, auch diese ewige Lebens- und Leidenschaftsbeschwörerei (gegen die man ja nur allzu gern das trockene Kunstbrot, die Gemachtheit von Büchern setzt, und das selbst so was wie Sex und Glanz haben kann) – als Anlass für dieses konzertierte Zerlegen eines Buchs ist das ein bisschen wenig. Nur scheint das Bedrohungspotenzial groß genug, um es solcherart klein halten zu müssen. Das Selbstbewusstsein auf der „anderen Seite“ der Literaturkritik ist da wenig ausgeprägt, das Vertrauen in die eigenen Mittel.

Winkels lässt dann noch die KiWi-Kultur hoch leben, wo die Lottmanns und von Uslars einträchtig neben den Timms und Zaimoglus stehen (und eben auch Weidermann neben Hubert Winkels mit seinen KiWi-Anthologien). Man fragt sich, warum Winkels sich da nicht locker macht, diese Koexistenz gibt es ja nicht erst seit gestern. Und ein Selbstläufer ist es, die „angemessene“ Lektüre der Welt einzufordern, eine komplizierte, verschlungene, komplexe Angelegenheit für das Unterhaltungsfeuilleton genauso wie für das Haltbarkeitsfeuilleton.

Natürlich ist es nicht schön, wenn das eine besser funktioniert als das andere und schlichtweg das größere Publikum anspricht. Wenn, wie Winkels schreibt, die „Rezensionen in den fünf klassischen überregionalen Zeitungen ökonomisch relativ unbedeutend sind“ und eine Zeitungsneugründung wie die FAS als Taktgeber fungiert – da kann das kritische Establishment sich schon mal arg zurückgedrängt fühlen und sich veranlasst sehen, in einer Art heroischem Befreiungsschlag Weidermanns „Lichtjahre“ stellvertretend zu sezieren. Und zusätzlich ärgerlich, wenn Weidermann mit seiner Literaturgeschichte die Aufmerksamkeitsschwelle bei einer Lesung erstaunlich hoch hält – als er seine Texte über Undine Gruenter oder Handke las, war es still im LCB, das Publikum hörte gebannt zu.

Als aber Ulrich Greiner noch aus seinem eigenen „Leseverführer“, einer „Gebrauchsanweisung zum Lesen schöner Literatur“, las, da wurde unruhig mit den Füßen gescharrt, wollten die Ausführungen zu Erzählhaltungen und Erzählperspektiven so gar nicht verführen. Es war das beste Argument dafür, dass die Literaturwelt ein Buch wie „Lichtjahre“ und die unbekümmerte Freshness eines Weidermanns gut verträgt und dass sich Literatur vielleicht doch auch über das Leben und die Menschen vermitteln lässt und nicht nur aus ihrer textuellen Feinstruktur heraus.