: „Auf Dauer reicht Protest nicht“
DISKUSSION Wer den Politikwechsel will, kann Wahlen nicht einfach doof finden
ist Gastprofessor für kritische Gesellschaftstheorie in Frankfurt/M. Er ist Mitglied der Prokla-Redaktion und im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Juni erschien von ihm: „Multiple Krise, autoritäre Demokratie und radikaldemokratische Erneuerung“ (Prokla 171).
INTERVIEW SONJA VOGEL
taz: Zweieinhalb Wochen vor den Bundestagswahlen hört man allenthalben Klagen über die Demokratie: zu teuer, zu behäbig, zu intransparent. Man könnte den Eindruck bekommen, die parlamentarische Demokratie sei gescheitert.
Alex Demirovic: Solche Kritiken kommen seit langem von verschiedenen Seiten mit unterschiedlichen Absichten. Einige verfolgen mit dieser Kritik durchaus, den Parlamentarismus zu schwächen. Interessierte Kräfte wollen ,weniger Demokratie wagen‘ und die Rechte des Volkssouveräns einschränken. Der Kapitalismus will sich von seiner Form der parlamentarischen Demokratie trennen oder diese zumindest einschränken. Deswegen sollte man bei manchen dieser Kritiken heraushören, ob sie nicht grundsätzlich demokratiefeindlich sind. Doch manches ist auch rational. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob der Parlamentarismus nicht unzulänglich ist für viele heutige Anforderungen und ob er durch weitere umfassende demokratische Mechanismen ergänzt werden muss.
Auch unter Linken und Liberalen dominiert ein pessimistischer Demokratiediskurs. Leben wir in einer Zeit der Postdemokratie, wie der Soziologe Colin Crouch feststellte?
Die kritische Analyse ist ja nicht gleichzusetzen mit Pessimismus. Crouchs Argumente sind in der Linken seit langem bekannt; und „Postdemokratie“ ist keine zureichende Beschreibung der Situation, weil der Parlamentarismus nicht mit Demokratie gleichgesetzt werden darf. Es sollte aber auch nicht unterschätzt werden, wie viele Freiheiten, relevante Entscheidungen, wie viel Wissen und Diskussionen immer noch durch parlamentarische Prozesse vermittelt sind.
Andererseits gibt es Gegentendenzen, neue soziale Bewegungen und außerparlamentarische Netzwerke. Auch die Linke ist so entstanden. Sind das Zeichen einer Demokratisierung?
Ja, das sind Elemente von Demokratisierung. Aber die Frage ist immer: was kommt am Tag danach? Das Hauptproblem ist, ob es zu neuen Praktiken, zu neuen Institutionen kommt, die die Demokratie aus der Krise herausführen und ihr auch jenseits des Parlaments neue Perspektiven eröffnen. Allein der Protest reicht nicht, auf die Dauer ändert er nichts an der Subalternität, dass die einen die Politik setzen und die anderen sich immer nur dagegen wehren. Dies führt zu keinem neuen gesellschaftlichen Entwicklungspfad, auf dem die Demokratie zur vollen Entfaltung käme.
Es scheint mittlerweile zum guten Ton zu gehören, sich gegen Wahlen zu wenden. Jüngst bekannte sich sogar Harald Welzer als überzeugter Nichtwähler. Eine neue Tendenz?
Gleichgültigkeit gegenüber Wahlen oder reflektierte Politikdistanz ist ja verbreitet, in Deutschland weniger als anderswo. In einem Teil der Linken gibt es seit langem eine ablehnende Haltung gegenüber Wahlen. Diese legitimierten bestehende politische Herrschaftsverhältnisse und integrierten radikale Kritiker. Doch Intellektuelle wie Welzer oder Peter Sloterdijk, die einen sehr guten Zugang zu den Medien haben, argumentieren nicht demokratiepolitisch. Aus meiner Sicht ist diese Haltung fatal. Der höchste Anteil der Nichtwähler findet sich in der unteren sozialen Klasse. Anstatt hier öffentlich diejenigen zu unterstützen, die für einen Politikwechsel eintreten, also die Linke, unterstützen solche Intellektuellen letztlich Prozesse der Passivierung der Unteren.
Gibt es auf staatlicher Ebene überhaupt eine Wahl? Ist es egal, ob Schwarz-Gelb oder Rot-Grün regiert?
Ich würde der Überlegung des Philosophen Slavoj Žižek zustimmen, dass erst durch die Wiederholung der Politik Thatchers durch Tony Blair die Politik richtig neoliberal wurde. Das Argument gilt auch für die Politik der rot-grünen Regierung. Insofern ist von einer Neuauflage einer solchen Koalition nicht so viel zu erwarten. Die selbstkritischen Korrekturen an der Agenda-2010-Politik sind gering. Mit Konzepten des ökologischen Wachstums kommt kein neuer, nachhaltigkeitsorientierter Entwicklungspfad. Es bräuchte eine neue, transformatorische Konzeption, die die linke Wahlmehrheit in eine politische Mehrheit übersetzt. Das geht nur, wenn endlich die Existenz der Linken in Gesellschaft und Politik anerkannt wird und sich eine Mehrheit für eine radikale Reformstrategie bildet.
Wirtschaftskrise, Sozialabbau, Erosion des Gesundheitssystems, zunehmende Überwachung – es spricht viel gegen die herrschende Politik. Warum gibt es in Deutschland kein linkes Bündnis?
Um aus der Vielzahl von Gründen nur einige zu nennen: Da ist die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft mit ihrer starken Automobilindustrie, der es gelungen ist, sich in der Krise zu behaupten, Arbeitsplätze zu erhalten oder neue zu schaffen. Wir haben eine Spaltung des Arbeitsmarkts: relative stabile Beschäftigung und gute Einkommen auf der einen Seite, Prekarisierung auf der anderen. Auf diese Weise können die kurzfristigen Interessen die Einsicht in die langfristigen blockieren. Der Druck ist also nicht stark genug, die Gewerkschaften innerlich zerrissen. In den Institutionen wurden emanzipatorische Tendenzen nach der Wende stark zurückgedrängt.
Hat es die Linke in Deutschland besonders schwer?
Ein linkes Bündnis, das notwendig und möglich wäre, um alle Kritikpunkte politikfähig zu machen, kommt auch aus Angst vor antikommunistischen Traditionen nicht zustande. Die historische Rationalität der Linken wird mit Hinweis auf die Erfahrung mit DDR, Stasi und Totalitarismus bestritten. Das wird auch deswegen tabuisiert, weil dann der konkrete Vereinigungsprozess mit seinen Folgen für den Staatshaushalt, die sozialen Sicherungssysteme, die konkrete Lebenslage vieler ebenso wie die Prozesse der Bereicherung Weniger zur Sprache käme.