AMERICAN PIE
: Tolles Tempo

FOOTBALL Mit überfallartigen Angriffen revolutionieren die Philadelphia Eagles das NFL-Offensivspiel

Washington, DC. Die Hauptstadt ist in Aufruhr, Menschen sorgen sich um die Zukunft, selbst die seriöse lokale Presse titelt: „Washington fällt einer einzigartigen Attacke zum Opfer.“ Nein, die Washington Post berichtet nicht von einem Terroranschlag aufs Weiße Haus. Die Rede ist vielmehr von der einheimischen Footballmannschaft. Denn die Redskins haben ihr Auftaktspiel verloren. 33:27 gewannen die Philadelphia Eagles am Montag in Washington – und das vor allem dank einer unkonventionellen Offense. Von dieser „einzigartigen Attacke“, einem Angriffssystem, wie es die NFL noch nie gesehen hat, wurden die Redskins vollkommen überrascht.

Dabei war alles bereit gewesen für das glorreiche Comeback von Robert Griffin III. Der junge Quarterback war im vergangenen Jahr schon in seiner ersten Profi-Spielzeit zum NFL-Superstar aufgestiegen, aber hatte sich am Ende der Saison schwer verletzt. Das rechte Knie, in dem alle verfügbaren Bänder gerissen waren, musste operiert und neu aufgebaut werden. Im Spiel gegen die Eagles waren dem 23-jährigen Liebling der Fans in Washington die lange Pause und der Trainingsrückstand deutlich anzusehen, vor allem in der ersten Halbzeit, in der Philadelphia die Redskins überrannten und sich eine für die Gastgeber noch schmeichelhafte 26:7-Führung erspielten.

Das lag vor allem am Angriff der Eagles, der ebenso runderneuert worden war wie Griffins Knie. Philadelphia hatte im Januar Chip Kelly als neuen Chefcoach engagiert. Eine mutige Entscheidung, denn der 49-Jährige hatte keinerlei NFL-Erfahrung aufzuweisen – weder als Spieler noch als Assistenztrainer. Coach Kelly hatte bislang nur College-Mannschaften trainiert, das allerdings mit großem Erfolg. Die Oregon Ducks spielten unter Kelly in den vergangenen vier Jahren immer mit um die College-Meisterschaft. Trotzdem war die Skepsis groß, als Kelly den Job in Philadelphia übernahm.

Nicht nur, weil er mit Andy Reid den erfolgreichsten Trainer in der Geschichte der Eagles beerbte, nicht nur weil schon früher erfolgreiche College-Trainer bei den Profis gescheitert sind, sondern vor allem deshalb, weil Kelly als Offensiv-Genie gilt, aber angezweifelt wurde, ob sein Angriffsschema auch auf allerhöchstem Profiniveau umzusetzen ist. Denn das widerspricht grundsätzlich dem langsamen, von der Seitenlinie kontrollierten, vor allem auf Fehlervermeidung setzenden Angriffsspiel, das in der NFL an der Tagesordnung ist. Kelly setzt dagegen auf Unberechenbarkeit, den Überraschungseffekt und Geschwindigkeit. Statt die Köpfe zusammenzustecken, um gemütlich den kommenden Spielzug zu besprechen, bringen seine Mannschaften den Ball so schnell als möglich wieder ins Spiel. Die Absicht dieser Blitz-Offense ist es nicht nur, der gegnerischen Verteidigung keine Zeit zu geben, sich einzustellen, sondern auch, sie systematisch zu erschöpfen. Der Unterschied ist ungefähr so fundamental wie der zwischen dem endlosen Ballbesitz-Fußball des FC Barcelona und dem frenetischen Balleroberungs-und-Umkehrspiel von Borussia Dortmund.

In Washington ging diese Strategie zumindest eine Halbzeit lang auf. Bis zur Pause hatten die Eagles 53 Spielzüge aufs Feld gebracht, der Durchschnitt in der NFL ist ungefähr halb so viele. Im 20-Sekunden-Rhythmus sah sich die Redskins-Verteidigung einer neuen Angriffswelle ausgesetzt. Ein irrsinniges Tempo, fand selbst einer der Verursacher: „Ich habe so etwas noch nie erlebt, schneller geht es nicht mehr“, sagte Eagles-Quarterback Michael Vick, „es war irreal.“

„Ich denke, so sollte Football gespielt werden“, konnte sich Coach Kelly nach dem Spiel einen Seitenhieb auf seine zum Kontrollwahn neigenden Kollegen nicht verkneifen, „wir hatten eine Menge Spaß heute.“ Das konnte man von den Redskins nicht behaupten. Die waren schon nach wenigen Minuten außer Atem. THOMAS WINKLER