„Wir haben auf die Gier der Nazis gebaut“

NS-GESCHICHTE Überlebender des Vernichtungslagers Sobibor erzählt Schülern von seinem Widerstand

Und dann fragt der alte Mann, ob die Schüler ein Lied hören wollen. Die rechte Hand in der Hosentasche, singt der Widerstandskämpfer, der mit anderen Gefangenen den Aufstand im NS-Vernichtungslager Sobibor organisiert hat, ein jiddisches Stück. Ohne Begleitmusik klingt seine zarte Stimme durch den vollen Raum. Er steht alleine vor zwei zehnten Klassen der Robert-Jungk-Oberschule in Wilmersdorf. Die 15- bis 16-Jährigen haben sich auf den Stühlen vorgebeugt, hören aufmerksam zu.

Es sind Momente wie diese, die die Begegnung zwischen den Schülern und dem Zeitzeugen prägen. „Das ist etwas ganz anderes, als die Geschichte in Büchern nachzulesen“, sagt die 16-jährige Asu Gudieva. Mit den Erzählungen aus dem Leben des Zeitzeugen könne sie sich besser in die Zeit hineinversetzten.

Philip Bialowitz wurde im April 1943 mit seiner Familie im Vernichtungslager Sobibor interniert. Es gelang ihm und seinem älteren Bruder, Teil der Verwaltungsmannschaft des Lagers zu werden. Von dort aus organisierten sie sich in einer Widerstandsgruppe, die am 14. Oktober 1943 einen Aufstand organisierte. „Wir haben auf die Gier und die Pünktlichkeit der Nazis gebaut“, erzählt er. Für ihre Flucht hatte die Gruppe Wachleute zu bestimmten Uhrzeiten in Wohnbaracken gelockt, unter dem Vorwand, ihnen Lederjacken zu geben, die sie Gefangenen abgenommen hätten. Die Widerständler brachten auf diese Weise zwölf isolierte SS-Männer um und verhalf 365 Menschen zur Flucht. Nach dem Aufstand schlossen die Nazis das Vernichtungslager.

Gefragter Zeitzeuge

„Ich kann gar nicht fassen, wie viel Mut die Leute damals bewiesen haben“, sagt der 16-jährige David Mazur. Philip Bialowitz war bei seiner Flucht vierzehn – zwei Jahre jünger als die meisten Schüler im Klassenraum. Der Zeitzeuge erzählt, dass er es als seine Aufgabe sehe, mit jungen Menschen zu sprechen, um seine Botschaft zu verbreiten. „Obwohl sich die Geschichte immer wiederholt, darf so etwas wie die Schoah nie wieder geschehen.“ Besonders beeindruckt habe ihn der Besuch des Hauses der Wannsee-Konferenz. „Das war der Ort, an dem der Tod meiner Familie beschlossen wurde“, sagt er.

Bialowitz ist seit 25 Jahren ein gefragter Zeitzeuge. Weil sich am 17. Oktober die Revolte im Vernichtungslager Sobibor zum 70. Mal jährt, hat ihn die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes nach Berlin eingeladen.

CEM GÜLER