Die Regierende von ganz unten

Eine Legende wie die Nationalheldin Nanny ist die 60-jährige Portia Simpson nicht. Doch so wie Nanny einst an der Spitze der Maroons, der selbst organisierten entlaufenen Sklaven im Jamaika des 18. Jahrhunderts, stand, steht Simpson seit Donnerstagabend an der Spitze des seit 1962 unabhängigen Staates. Zu diesem Zeitpunkt war die Übernahme des Ministerpräsidentenamtes nur noch Formsache, was in Bezug auf den vorangegangenen innerparteilichen Wahlkampf der seit 1989 ununterbrochen regierenden sozialdemokratischen People’s National Party (PNP) nicht gesagt werden kann.

„Die Menschen in Liberia sagen, sie wollen eine Frau, die Menschen in Chile sagen, sie wollen eine Frau, die Menschen in Jamaika sagen, sie wollen eine Frau. Gebt den Menschen, was sie wollen!“, lautete mit dem Verweis auf die frisch gewählten Präsidentinnen Ellen Johnson-Sirleaf und Michelle Bachelet ihr Slogan in der innerparteilichen Auseinandersetzung.

Dass der Nachfolger des zurückgetretenen Percival James Pattersen eine Nachfolgerin wurde, ist eine Überraschung, denn die 34 Parlamentsabgeordneten der PNP hatten eine Präferenz für den Sicherheitsminister Peter Phillips bekundet und nicht für die Ministerin für Lokales und Sport, Simpson, die auf eine lange Parteikarriere seit Ende der Siebzigerjahre zurückblicken kann. Damals hatte sie als Gemeinderätin begonnen, um schon 1976 ins Parlament in Kingston einzuziehen. Bei der Bevölkerung machte sie sich als Arbeits- und Sozialministerin einen Namen, weil sie engagiert für die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Schichten stritt.

Bei den Parteidelegierten scheint ihr das zum Vorteil gereicht zu haben. Für viele sprach gegen Phillips, dass der Sicherheitsminister für wachsende Unsicherheit steht: Über 1.600 Menschen wurden 2005 in Jamaika ermordet – ein neuer, trauriger Rekord. Kein Wunder, dass Simpson in ihrer Antrittsrede in Kingston die Bekämpfung der Schwerkriminalität als oberstes Ziel ausgab.

Die kinderlos verheiratete Simpson gilt schon seit langem als populärste Politikerin der PNP. Im Volksmund wird die aus armen Verhältnissen Stammende auch Mama Portia und Schwester P genannt. Obwohl sie einen akademischen Abschluss in öffentlicher Verwaltung hat und seit 1989 ununterbrochen Ministerposten bekleidet, wurde sie von ihren Mittelklassekonkurrenten Phillips und Finanzminister Karl Blythe aufgrund ihrer Herkunft als intellektuell ungeeignet bezeichnet. Doch gerade dass sie sich von ganz unten nach ganz oben gearbeitet hat, macht sie vielen Jamaikanern so sympathisch.

MARTIN LING