Statistischer Zweitligist Rot-Weiss Essen

Der fast schon logische 2:1-Erfolg über Holstein Kiel lässt Rot-Weiss Essen vom Aufstieg in die zweite Bundesliga träumen. Die vergangenen 30 Jahre zeigen, dass sich der Ruhrgebietsclub dort nicht allzu lange aufhalten wird

ESSEN taz ■ Warum wurde die Partie Rot-Weiss Essen gegen Holstein Kiel überhaupt angepfiffen? Regenschauer, heftiger Wind und tiefes Geläuf machten das Spitzenspiel der Regionalliga Nord nicht gerade zur optisch angenehmen Samstagnachmittag-Unterhaltung. Und eigentlich hätten sich die 14.081 Zuschauer an der Hafenstraße das Kommen auch schenken können. Der 2:1-Erfolg von RWE war laut Trainer Uwe Neuhaus „reine Statistik“. Immer wenn seine Mannschaft in der laufenden Saison ein Spiel verloren habe, sei sie in der Woche darauf erfolgreich gewesen, so Neuhaus. War die Niederlage am vergangenen Woche bei Carl-Zeiss Jena also einkalkuliert, um gegen den direkten Aufstiegskonkurrenten Holstein Kiel dreifach punkten zu können?

Ganz so einfach lief die Sache dann doch nicht. Zwar gewannen die Essener ihr 14. Heimspiel in Folge, gleichzeitig war es aber der „erste Sieg gegen eine Spitzenmannschaft“, wie Mittelfeldmann Stijn Haeldermans feststellte. Obwohl sie auf einen dankbaren, sich beinahe emotionslos ergebenen Gegner trafen, schafften es die RWE-Spieler nicht, das Spiel vorzeitig zu entscheiden. Die Treffer von Victor-Hugo Lorenzon (10.) und Arie van Lent (58.) stellten den knappen Sieg sicher. Dass es nicht deutlicher wurde lag auch an der spielerischen Begrenztheit der Akteure in rotweiß.

Sinnbild hierfür ist Abwehrspieler Michael Bemben. Der ehemalige Profi des VfL Bochum nahm allein viermal aus geschätzten 35 Metern Mittelstürmerposition Anlauf, um einen Freistoß Richtung Kieler Tor zu wuchten. Berührten die ersten beiden Schüsse noch die Oberkante der Latte, segelten die beiden Versuche der zweiten Halbzeit in „Field-Goal“-Manier weit über das Tor hinweg. Very british. Ob es so gewollt war, ließ sich Bemben nicht entlocken. Was dafür spricht: In der zweiten Hälfte spielte RWE in Richtung alter Westtribüne. Seit deren Abriss befindet sich dort eine freies Feld. Bislang wurden alle Spielbälle wiedergefunden – nur manchmal dauert es halt ein wenig länger.

Die Gäste mochten sich an solchen Kleinigkeiten nicht aufhalten. „Der Erfolg der Essener ist in Ordnung“, sagte Coach Frank Neubarth nach dem Spiel, trocken, mit ruhiger Stimme. Er wirkte wenig überrascht. Und irgendwie schien ganz Fußball-Kiel die Niederlage einkalkuliert zu haben: Nur 500 Fans begleiteten ihr Team ins Ruhrgebiet. Die Sangeskraft hielt sich in Grenzen. Lediglich nach dem überraschenden Ausgleich durch Andre Breitenreiter (12.) wurde es im linken Drittel der Gegengeraden etwas lauter – Aufstiegseuphorie hört sich anders an.

Vielleicht liegt es auch an der fehlenden Routine. Seit dem Abstieg aus der damaligen 2. Bundesliga Nord pendelten die Kieler zwischen dritter und vierter Liga hin und her. Und fasst scheint es so, als sollte man auch in diesem Jahr den Sprung nach oben verpassen. Nach der 1:2-Niederlage gegen Jena ging auch das zweite „Endspiel“ um den Aufstieg verloren. „Wir sollten uns jetzt erst einmal um uns selber kümmern und aufhören, an die Konkurrenz zu denken“, lautete Neubarths Fazit am Ende der Null-Punkte-Woche.

In Essen schaut man derweil weiter. Obwohl das Tabellenbild immer noch unter den winterlichen Spielausfällen leidet, wächst der Vorsprung auf die Nicht-Aufstiegsplätze konstant. Ein Jahr nach dem Abstieg könnte Rot-Weiss Essen in die zweite Bundesliga zurück kehren. Vielleicht sollten sie sich in Zukunft mal nicht mehr so häufig auf die Statistik verlassen. In den vergangenen drei Jahrzehnten wechselten die Essener statistisch gesehen alle ein bis zwei Jahre die Ligen. Wirklich toll ist das nicht: Erstklassig waren sie zuletzt in der Saison 1976/77.

HOLGER PAULER