Komplizierte Tauschgeschäfte

Die Schauspieler des Rigaer Regisseurs Alvis Hermanis haben einen Monat lang bei Stripperinnen, Taxifahrern und Kindergärtnerinnen recherchiert. Heraus kamen die „ Lettischen Geschichten“. Sie gastierten am Wochenende im HAU

Es gibt Gegenden, da gedeihen skurrile Geschichten, je weiter ab vom Schuss man sich befindet. In einem Küstendorf zum Beispiel, wo der ehemalige Fischer Gundars früher in der verbotenen militärischen Sperrzone seine Netze auswarf. Jetzt sitzt er vor seinem Haus und erzählt: wie als einziger dicker Brocken ein sowjetisches U-Boot auftauchte, dessen Besatzung flugs Alkohol gegen Fisch tauschte. Oder er erzählt von seinem Nachbarn, der einen Traktor besitzt, mit dem er Boote aufs Trockene zieht. Die Bezahlung erfolgt in Fisch, den er wiederum geräuchert auf dem Markt verkauft. Damit weiß man ziemlich genau, dass sich in dem abgelegenen Örtchen nach dem Sozialismus nicht viel verändert hat, außer dass die Tauschgeschäfte heute noch komplizierter verlaufen.

Man kann solche Personen, die stellvertretend von der Veränderung der Zeit erzählen, natürlich erfinden. Man kann sie aber auch in der Realität finden und ihnen einen Monat lang je einen Schauspieler zur Seite stellen, wie es Regisseur Alvis Hermanis an seinem Rigaer Theater getan hat: um Lebensläufe, Gesten und Dialekte originalgetreu zu erlernen. Und dann im zweiten Schritt in der Rollenumsetzung Haltungen zu finden zu den Charakteren, der Phantastik ihrer Geschichten, den Leerstellen oder den überbordenden Details, mit denen allein das Leben des ehemaligen Fischers gespickt ist: militärische Sperrzone, Weltmeere, Fischerei, die Exfrau. Während der Schauspieler das alles erzählerisch beeindruckend zu einem Netz spinnt, zerlegt er mit der Axt einen Fisch in kleine Stückchen – Symbol für die andere Seite des Umgangs mit der Erinnerung.

Und die Ambivalenz der Erinnerung ist bei allen im Spiel. Bei der Kindergärtnerin, die belustigt ein missglücktes Date nachspielt, das im Ambiente eines Schnellrestaurants trauriger ausfällt, als sie vorzugaukeln versucht. Oder die Stripteasetänzerin, die eine fiktive Schülerin die Kunst des Tabledance lehrt und in der Trainingsstunde mehr verbal als körperlich in die Bewegungen kriecht.

Und vor allem ist da der junge Soldat, der immer wieder einwendet, nichts erzählen zu können, und aus dem es doch heraussprudelt. Die Kindheit auf dem Bauernhof, das Mädchenkinderheim, wo er gerne herumlungerte, und der erste Job im Sägewerk – der so miserabel bezahlt war, dass er sich freiwillig zum Kriegseinsatz in den Irak meldete. Je länger er akribisch demonstriert, wie man sich mit einer 0,3-Liter-Wasserflasche in der Wüste wäscht, desto klarer merkt man, dass er sich sehr präzise außen an den Umrissen dessen entlang bewegt, was von innen betrachtet nur schmerzen würde.

In „Long Life“ hat Hermanis schon einmal einen ähnlichen Zugriff auf die Realität gezeigt. Fünf junge Schauspieler verwandeln sich darin in die Bewohner einer Alten-WG, die schlafen, aufstehen, waschen, essen, aufräumen. Ein Spiel der Gesten und Gebärden, das ohne ein gesprochenen Wort auskommt. Die „Lettischen Geschichten“ sind sperriger, setzen ganz auf Sprache, aber stehen genauso für die Besonderheit von Alvis Hermanis’ Theater: aus dem behutsamen Abtasten der Figuren eine neue Realität zusammenzusetzen. Neun Schauspieler, neun unterschiedliche Monologe zeigen die „Lettischen Geschichten“, in denen die Figuren über ihre eigenen Geschichte mittels Geschichten Herr werden.

In den geglückten Momenten findet sich eine Schwebe zwischen dem Bericht über einen Menschen und der Verkörperung seiner Existenz. Irritationen sind dabei garantiert. Sachlich, fast ungerührt erzählt eine Schauspielern, wie der Ehemann einer Taxifahrerin auf einer Hochzeit stirbt. Und während man sich über ihre stoische Distanz wundert, wird das Amateur-Hochzeitsvideo eingespielt, auf dem zu sehen ist, wovon eben die Rede war. Die Trauung, der Wodka, die Hitze, die erfolglosen Wiederbelebungsversuche, die Party, die trotz des Toten bruchlos weitergeht – ohne Trauer, ohne Pathos, mit einer Stoik, die die Kunst manchmal erst findet, wenn sie sich von ihr entfernt.

SIMONE KAEMPF