Auswanderer mitten unter uns

AUSSTELLUNG Das Bremerhavener Auswandererhaus wird mit seiner aktuellen Schau zum Einwandererhaus: Statt um Neue-Welt-Romantik geht es um die knallharte Realität von Flüchtlingen in Deutschland

Auswanderung ist hier kein historisches Thema, sondern wird ein politisches

Kazim Azad weiß nicht mehr, auf welchem Weg er nach Deutschland kam. Sind sie in der Schweiz zwischengelandet? Oder vielleicht in Wien? Er weiß nur, wie er in das Flugzeug stieg, in Istanbul. Dann pumpt ihn sein Schlepper voll mit Beruhigungstabletten, er ist völlig neben der Spur. Azad verlässt sein Heimatdorf im Südosten der Türkei, ein Kurdengebiet, wie es manchmal in den Nachrichten heißt, und er weiß nicht, was mit ihm geschehen wird. Acht Jahre sind seitdem vergangen, über 8.000 Euro hat ihn und seinen Bruder die Flucht gekostet. Er will nur nicht länger Angst haben müssen, dass nachts Soldaten seine Tür eintreten und ihn holen könnten, wie es immer wieder in der Nachbarschaft geschieht. Nun hängt sein Porträt hoch über uns, so dass wir den Kopf weit in den Nacken legen müssen, um ihm in die fotografierten Augen zu schauen. Ernst schaut er und gefasst.

Die Geschichte von Kazim Asad ist einer von sieben Lebensläufen, mit denen das ‚Deutsche Auswandererhaus‘ (DAH) in Bremerhaven seine Besucher zurück in die Gegenwart holt: Eben noch stand man vor einem riesigen Schiffsheck, betrat es über eine kippelige Brücke; hörte sich Lebensläufe von Menschen aus dem zaristischen Russland oder dem preußischen Vorpommern an; schaute auf alte Seekoffer; beantwortete die Fragen, die die Einwanderungsbehörden auf Ellis Island stellten. Ein Ausflug in die Welt der großen Auswanderungswellen ab Mitte des 19. Jahrhunderts, damals als der Opa vom Opa über Bremerhaven, Cuxhaven oder Hamburg nach Amerika ausschiffte, mehr oder weniger freiwillig.

Nun aber ist Schluss mit Nostalgie, mit dem Flair der vermeintlichen Aufbrüche in eine bessere Zeit: „Auf der Flucht – Sieben Lebenswege nach Deutschland 1980 – 2010“ heißt die kleine, eindringliche Schau aus Texttafeln und einigen, wenigen Bildern, die dazu einen Kontrapunkt setzt; die auch das eben Gesehene relativiert: Womöglich war auch damals das Ankommen in einer neuen Welt schwieriger und schmerzhafter, als wir es uns heute vorstellen können.

Von der Familie Shahrzad aus dem Iran wird berichtet, die eigentlich nach Kanada will, nur fällt bei einer Zwischenlandung in Frankfurt auf, dass ihre Papiere gefälscht sind. Von der Tamilin Meena Yogeswaram wird erzählt, die ihr Mann nachholt, er hat eine Aufenthaltserlaubnis, sie muss auf ihre 25 Jahre warten. Alan Kadiew kam aus dem von bewaffneten Auseinandersetzungen geschüttelten Dagestan, der mit seiner Familie, in einem LKW versteckt, erst bis nach Moskau kommt und dann nach Hamburg und dem es anfangs komisch vorkam, wie vergleichsweise freundschaftlich hierzulande Mädchen und Jungen miteinander umgehen und dem das immer mehr gefiel.

Aber ebenso wird von Familien erzählt, die auf der Flucht zerbrechen; Ehen, die geschieden werden, weil das jahrelange Warten auf einen halbwegs sicheren Status gemeinsam nicht auszuhalten ist, während aus Lautsprechern an der Decke dann und wann der Lärm startender Flugzeuge kommt.

Auswanderung ist hier kein historisches Thema, sondern wird ein politisches, nicht zuletzt, weil die Schau auch mit Zahlen wie dieser aufwartet: 2009 erhielten von den 26.570 Flüchtlingen, die bei uns einen Antrag auf Asyl stellten, nur 1,5 Prozent diesen Status zu gesprochen. Ganz anders geht es hier zu als im Museumsort ‚Ballinstadt‘ auf der Hamburger Elbinsel Veddel, der es dabei belässt, den Besucher mit historisierenden Kulissen und Inventar zu bekuscheln, der allein darauf setzt, dass aus den USA mit seinen geschätzten 50 Millionen Einwohnern mit deutschen Vorfahren schon genug Interessierte anreisen werden – ‚Roots und Heritage-Tourismus‘ nennt man das in Marketing-Kreisen. Dabei muss man gerade in der ‚Ballinstadt‘ nur einmal vor die Tür treten, dort einmal über den Platz gehen und ist mitten in einem Viertel, mit Bewohnern aus Dutzenden von Ländern, Geflüchteten und Vertriebenen, die etwas zu erzählen haben und denen man gleichfalls eine Stimme, ein Gesicht geben könnte.

Dass das Thema Auswanderung in Bremerhaven so aktualisiert und allem Kitsch und aller Sentimentalität entkleidet wird, ist ein großes Plus für das Haus an der Wesermündung – weshalb die Hamburger ‚Ballinstadt‘ völlig zu recht mit schlechten Besucherzahlen zu kämpfen hat.FRANK KEIL

Die Ausstellung endet am 2. Mai