Otto Sanders Tisch bleibt leer

TOD EINES SCHAUSPIELERS

Es gab junge Menschen, die wollten in die Stadt ziehen, in der Otto Sander lebte

In Berlin-Mitte, genauer gesagt im Restaurant „Altes Europa“, konnte es passieren, dass man als Gast abgewiesen wurde, obwohl noch ein Tisch frei war. „Der“, raunzte der Kellner im passend knarzigen Tonfall, „der ist immer für Otto Sander reserviert, falls der mal kommt.“ Und hey, Otto Sander!, klar, für Otto Sander, das hat man dann schon akzeptiert. Weil, nun ja, wegen Otto Sander eben. Für wen sonst?

Ob der Schauspieler da jemals gegessen hat? Was spielt das für eine Rolle? Otto Sander gehörte zum Inventar. Zum Inventar dieser Stadt. Zumindest für alle, die diesen einen Fim gesehen haben. „Der Himmel über Berlin“. Von Wim Wenders. 1987 gedreht. Die Mauerstadt, schwarz und weiß. Nick Cave bei einem Konzert im noch nicht verschobenen Hotel Esplanade. Und Otto Sander eben. Vor allem Otto Sander.

Er und Bruno Ganz spielen die Engel, die in schwarzen Mänteln durch Berlin flanieren. Die in der Stabi den Lesenden ihre unsichtbare Hand auf die Schulter legen. Die durch die Mauer auf die anderen Seite gehen. Die von der Spitze der Gedächtniskirche oder der Siegessäule auf die Stadt blicken. Springen. Aber nicht sterben. Und die reden, philosophieren. Endlos. In einer Langsamkeit, wie man sie heute im Kino wohl nicht mehr sehen wollen würde. Damals aber, vor 25 Jahren, gab es junge Menschen, die auch gerade wegen dieses Films in diese Stadt gezogen sind. In der Otto Sander ein Engel war. Mit einer Stimme, rau, gebrochen, tief, angerostet, lebendig wie dieses Westberlin. Es ist diese Stimme, die bleibt.

Letzten Sommer bei der Premiere der Seniorenwollennochwas-Schmonzette „Bis zum Horizont, dann links!“ lief Sander über den roten Teppich vor der Kulturbrauerei. Er war klein, reduziert schon, tieffaltig, nein, verknittert eher. Die Haut fast durchscheinend. Ein altes Männlein. Was für ein Gesicht!

Es war bestimmt nicht sein bester, aber sein letzter Kinofilm. Auf der Leinwand wirkte er stabiler als draußen auf dem Teppich. „Lebe jeden Tag so, als wenn es dein letzter wäre“, schmetterte er da seinen Altersheimmitbewohnern zu. Er sah aus, als habe er selbst es genauso gehalten.

Am Donnerstag ist er im Alter von 72 Jahren gestorben. Jetzt bleibt der Platz an seinem Tisch für immer frei. Wer sollte ihn auch füllen? GEREON ASMUTH