Wenn WM, dann P.

Zur Fußball-WM werden jede Menge Prostituierte erwartet – wogegen jede Menge Hilfsorganisationen mobilisieren. Unbeabsichtigt mobilisieren sie auch jede Menge Männer

VON HELMUT HÖGE

Die Fußball-Weltmeisterschaft (kurz WM) soll angeblich Prostituierte (kurz P.) en masse anlocken. Es haben sich deswegen bereits WM-P.-Aktionsgruppen gebildet. Ihre Forderungen reichen vom Kampf gegen die Zwangsprostitution bis zur strengsten Freierbestrafung („à la Schweden“) – Minimum: eine Freieraufklärung. Letzteres wurde bereits in Angriff genommen: mit einer „Hotline für Männer“. Das breite Mittelfeld besteht unter anderem aus folgenden Organisationen zur Eindämmung der WM-P.: Medica Mondiale, Deutscher Frauenring, Bund deutscher Kriminalbeamter, Männer gegen Männergewalt, Männerarbeit der evangelischen Kirche, amnesty international, Bundesverband sexuelle Dienstleistungen, Unicef …

Einzig die Frankfurter Hurenorganisation Dona Carmen tritt dagegen an, das heißt, sie bekämpft diese reaktionären „Bündnisse“ und rechnet ihnen vor: Von den rund 300.000 Prostituierten in der BRD sind 150.000 Migrantinnen, und davon sind 99 Prozent nicht vom Frauenhandel betroffen. Die Zahlen stammen vom BKA „Lagebild Menschenhandel“. In Bezug auf die hohe Dunkelziffer ergänzte sie das LKA Berlin: eine „seriöse Dunkelfeldforschung“ stehe noch aus. In Summa machen sie den „Freier-Kampagnen und allen anderen Formen der Dramatisierung von Menschenhandel und Zwangsprostitution den Vorwurf, dass sie ein Randphänomen von Gewalt im Migrationsprozess missbrauchen, um Prostitution als Ganzes in Zusammenhang zu bringen mit Zwang, Gewalt und organisiertem Verbrechen, um sie damit zu stigmatisieren und zu kriminalisieren.“

Was für die eigentliche Arbeit der Dona-Carmen-Gruppe gilt, die es hauptsächlich mit in Frankfurt temporär anschaffenden P. aus Lateinamerika zu tun hat (weswegen ihre Zeitschrift Muchacha heißt), trifft auch auf die meisten hier antretenden Fußballer zu, die da vor der Weltpresse dribbeln, abgeben und schießen werden: Sie kommen aus Lateinamerika. Fast täglich sind Fußballmanager aus Europa in Südamerika unterwegs – auf Talentsuche. Manchmal gleich in Rudeln – als Reisegruppe. En passant sammeln sie dabei auch jede Menge P.-Erfahrungen. Da kommt es also bereits zu einer ersten zarten Berührung zwischen WM und P.

In São Paulo trieb es eine solche Gruppe einmal so doll, dass ihnen einer der Talentsucher abhanden kam. Erst zwei Tage später fanden sie ihn – benommen vorm Hotel liegen. Man hatte ihn entführt und einer Niere beraubt. Die sofort alarmierte brasilianische Polizei blieb gelassen: Erst einmal müsste bewiesen werden, dass er mit zwei Nieren eingereist sei. Beim Einkauf von lateinamerikanischen Spielern für europäische Fußballmannschaften haben sich einige Polen als Zwischenhändler bewährt. Einer, mit einem umgebauten Gutshof als Trainingscamp, kauft in Lateinamerika gleich ganze Dorfmannschaften auf und schafft sie zu sich nach Hause. Von dort werden sie einzeln oder in Kleingruppen weiterverkauft.

Die WM ist ein Fast-Globalevent für die neue Hauptstadt: einmal ökonomisch, aber auch, dass wir (Deutschland) so etwas händeln können: Nicht wie die Russen Tschetschenien oder die Amis New Orleans.

Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit (für die eingrenzende Sicherheitspolitik freilich die ganze). Gleichzeitig muss das Megaevent auch das Gegenteil sein: mindestens so interessant-entgrenzend, dass die Weltöffentlichkeit sich nicht langweilt. Also muss Stimmung gemacht werden. Und wie kann man es am Besten knallen lassen – außer mit einem teuren Feuerwerk? Bei Weib, Wein und Gesang. Vulgo: Mit Nutten, Alkohol und Gegröhle! Nicht nur der marode Goya-Club, das Tempodrom, der Ku’damm, die Paris-Bar und das extra zur WM errichtete Großbordell in Halensee – nach der griechischen Stürmergöttin „Artemis“ genannt –, auch die ganzen Hotels und so genannten Flaniermeilen in Mitte erwarten sich von der WM wahre Wunder – in ökonomischer Hinsicht.

Es blieb nichts anderes mehr übrig: Die altbewährte „High-Life-Combo“ musste ran, die sich schon bei der Berlin-750-Jahre-Feier bewährt hatte. Die „WM-Taskforce“ traf sich zu ihrem ersten „Brainstorming“ in Konstanz. Im Hotel-Konferenzsaal besprachen sie einige Auswertungen von WM-Erfahrungen anderer Städte. Während einer Pause ging die halbe Taskforce runter an den Hafen.

Dort steht seit 1993 am Ende der Mole eine über 15 Meter hohe, sich langsam drehende Riesenplastik, die von weitem wie eine winkende Statue of Liberty aussieht. Es ist aber „die schöne Imperia“ – benannt nach einem Balzac-Roman. Den Berlinern sagte der Roman nichts, sie waren in Globalgedanken versunken – und von Konstanz selbst erhofften sie sich dabei am allerwenigsten. Ein ortsansässiger Bodenseefischer belehrte sie eines Besseren: Die sich drehende halbnackte Riesenfrau mit spitzen Brüsten aus Beton symbolisiert die wegen des berühmten Konzils von Konstanz zwischen 1414 und 1418 in die Stadt geströmten P. aus aller Welt und aus allen Klassen.

Auf dem Konzil verhandelte man die Thesen des böhmischen Theologen Jan Hus, dem Kaiser Sigismund freien Abzug zugesichert hatte. Aber dann geriet das Konzil doch derart in Rage über den Reformer, dass sie ihn gleich an Ort und Stelle verbrannten. In Böhmen entstand aus dieser „Boshaftigkeit“ die Hussitenbewegung, die dann drei Kreuzzugsheere zusammenschlug. Dies war der eigentliche Beginn der Reformation. Das interessierte die WM-Taskforce aber alles gar nicht. Nur ein Aspekt an der ganzen Geschichte: Dass so ein Topevent P. aus aller Herren Länder zusammentrommeln konnte – und es damit für alle Beteiligten zu einem bleibenden Erlebnis machte. An Jan Hus erinnert in Konstanz nur noch ein kleines Denkmal – irgendwo zwischen den Häusern eingeklemmt.

Das prominente „Imperia“-Denkmal hat aber zugleich auch noch einen utopischen Aspekt: nämlich den kleinen Kaiser und den verschrumpelten Papst gewissermaßen in die Tasche zu stecken (siehe Foto). Denn bald ist die Prostituierung allgemein geworden, das heißt, es wird allenthalben hart daran gearbeitet. Dazu gibt es inzwischen eine ganze Sex Industry.

Angesichts der TV-Übertragungen der Oscar-Verleihung kam die New York Times (NYT) zu dem Schluss, dass es dabei um die „Dekonstruktion der Prominenz durch den Zuschauer“ gehe, wobei deren Dekonstruktionskompetenz unterstützt werde von einer wachsenden Industrie der Stylisten, Dermatologen, Chirurgen und Trainer aller Art. Sie wittern die Fälschung noch hinter der natürlichsten Erscheinung. Die Dekonstruktion laufe zuletzt auf eine „Prominenz mit entmenschlichtem Antlitz“ hinaus. Der Berliner Mythologe Peer Schmidt hält dieses NYT-Resümee für eine der neuen Kulturindustrie angemessene Form des „Klatsches“, denn es gehe dieser Industrie nicht mehr um kulturelle Inhalte oder ihre Verkitschung, „sondern um solche für die industrielle Fertigung des menschlichen Körpers, also um etwas wesentlich Weitergehendes. Der ominöse Begriff der Kulturindustrie kann mithin als veraltet gelten.“

Nicht um die Oscar-Verleihung der Filmproduzenten (Fiction), sondern um die Pornoindustrie (Doku) geht es Georg Seeßlen: „Der pornographische Diskurs verwirft den weiblichen Körper nicht mehr (um ihn in einem seltsamen Jenseits, dem Pornotopia der Literatur wie des ‚Rotlichtmilieus‘, zu restaurieren), er fügt ihn vielmehr in den Mainstream ein … Pornographie ist die letzte große Illusion der Teilhabe der unnützen Menschen am System“, schreibt Seeßlen, der die „alte ‚Elendsprostitution‘ – vorwiegend in der Form der sexuellen Ausbeutung der proletarischen Frau durch den bürgerlichen Mann oder der kolonialisierten Frau durch den kolonialistischen Mann“ – nur noch für einen „Störfaktor“ hält in der Entwicklung der globalen Prostitution, „die den Wert des ‚fuckable‘ Menschen nicht durch institutionellen Zwang, sondern durch Marktkonkurrenz bestimmt.“

Seeßlen vermutet, dass die neue pornografische Sexualität, die auch den Krieg und die Folter „genußvoll“ mit einschließt, auf folgende Kernaussage hinausläuft: „Dein Körper gehört dir, nicht wie ein geistiges oder historisches Eigentum, sondern wie ein Auto oder ein Bankkonto. Er gehört dir wie Waren im Kreislauf, du kannst ihn verkaufen, vermieten, drauf sitzenbleiben, ihm Mehrwert abtrotzen oder ihn verspekulieren. Je neosexueller du bist, desto weniger kannst du Heimat in ihm haben, aber desto mehr Profit kannst du ihm entnehmen.“

Vielleicht versteht man jetzt das P.-Denkmal in Konstanz – die WM-Vorbereitungsgruppe ‚Rahmenbedingungen‘ tat jedenfalls so. Sie nahm von dort den Vorschlag mit nach Hause: Wir müssen alles gegen die „P. aus aller Welt“ bewegen („motivieren“). Dann werden die Fußballfans und auch noch ganz andere Männermassen von selbst nach Berlin strömen. Wer wird sich so etwas entgehen lassen? Die Frankfurter Hurenorganisation spricht in diesem Zusammenhang von der „Karriere eines Gerüchts“.

Diese schien jedoch zunächst gefährdet, denn die Hauptstadtjournaille von Bild bis BZ griff die Idee sofort, das heißt, vorzeitig (durch Verrat?) auf – und los ging’s; derart, dass sich der eine und andere „Verantwortliche“ die bange Frage stellte: Manchem Fußballfan reicht vielleicht bereits der ganze Medienrummel darüber – im Vorfeld?! Wenn die alle zu Hause blieben und sich bloß vorstellten, wie es da wieder mal in Berlin richtig abgeht. In den ganzen Youthhostels, Swingerclubs, Pornodiscos, Wellnesspuffs … (Bild stellt die sündigen Orte jetzt schon mal alle täglich der Reihe nach vor).

Als der Vorschlag, den Billig-P. abseits gelegene garagenartige „Verrichtungsboxen“ (à la Köln) zur Verfügung zu stellen, gerade vom Tisch war, lenkte Antje Vollmer schon die Aufmerksamkeit auf die besten und teuersten P. – in der Zeit (sic). Dort schrieb sie, dass sich die russischen Nutten bereits in Rudeln auf den Rolltreppen des KaDeWe tummeln würden, um Ausschau nach reichen Männern zu halten.

Genauso, mindestens so ähnlich hatte die Taskforce sich das Funktionieren ihrer Idee vorgestellt. Selbst die verschlafensten Bordelle gerieten plötzlich in WM-Hektik. In immer mehr Billigpuffs wurden und werden Sportsender sowie Großbildschirme installiert. Im Friedrichshainer Club „Helena“ erzählte mir eine P. – aus dem Osten: Ihre Hauptkampfzeit, das seien früher immer die Messetage in Leipzig gewesen, aber einmal hieß es dort, im Palast-Hotel habe die Mannschaft von Werder Bremen Quartier bezogen. Fast alle Mädchen hätten die alten Säcke in Leipzig sausen lassen und seien sofort zu den grünen Jungs nach Berlin gefahren – und sie hätten es nicht bereut: „Das war das Wildeste, was ich bisher erlebt habe – war ’ne schöne Zeit.“