Tatendrang
: Rita verteilt Pralinen

Ist das schwer, so eine Tram zu fahren?

Tante Rita wird heute aus dem Krankenhaus entlassen. Das heißt: Sie hat sich wieder mal selbst entlassen. Ihre Werte scheinen in Ordnung, aber eigentlich sollte sie zur Beobachtung noch bleiben. Aber sie lässt sich eben einfach nicht reinreden.

Während sie sich vom Arzt verabschiedet, packe ich all ihre Geschenke ein. Säfte, Bücher, CDs, Zeitschriften, Kekse, Pralinen – eine ganze Tasche voll. Mit der einen Hand trage ich die Tasche mit den Geschenken, mit der anderen ziehe ich den Koffer mit ihren Kleidern. Sie trägt die Blumen. Ich folge ihr in kurzem Abstand, während sie an jedem Zimmer klopft und jedem der Patienten eine Praline anbietet. Eine Abschiedspraline. Tante Rita ist so voller Tatendrang, dass man sich nur schwer vorstellen kann, dass damit irgendwann Schluss sein könnte.

„Darf ich fahren?“, fragt sie. „Das Auto ist kaputt“, sage ich, „ich bin mit der Tram gekommen.“ „Schade, ich wär jetzt wahnsinnig gern eine Runde hinterm Lenkrad gesessen.“ In der Tram habe ich ihre Tasche auf dem Schoß, während sie aus dem Fenster blickt und immer wieder sagt: „Wirklich schön. So ne Fahrt durch Berlin.“ Rosen, Gerbera und Narzissen lehnen ihre Köpfe ans Fenster. Für einen Moment scheint es, als würde die Zeit stillstehen und Tante Rita nie wieder aussteigen wollen.

Doch auf einmal schnellt sie in die Höhe, schiebt sich an mir vorbei, und kaum dass die Tram zum Stehen kommt, tippt sie dem Fahrer auf die Schulter. „Tschuldigung, wenn ich störe? Ist das eigentlich schwer, so eine Tram zu fahren?“ Verwundert dreht er sich um. „Ich würd liebend gern mal selbst eine Tram durch die Stadt steuern. Pkw-Führerschein hätt ich.“ Noch immer blickt der Fahrer sie sprachlos an. Dann dreht sich Rita zu mir um, deutet auf die Tasche, und während die Bahn wieder anfährt, fragt sie laut: „Mögen Sie Pralinen?“ JOCHEN WEEBER