Im Aktienfrühling

VON NICOLA LIEBERT

Nach fast fünf Jahren war es gestern wieder so weit: Der Aktienindex DAX überwand die psychologische Marke von 6.000 Punkten. Allerdings animierte dies viele Anleger, Aktien zu verkaufen und Gewinne erst einmal mitzunehmen, so dass der DAX am Nachmittag auf 5.990 Punkte fiel, eher er später wieder 10 Punkte zulegte.

Für den Sprung über die magischen 6.000 Punkte sorgten gestern vor allem zwei Aktien: Adidas und Deutsche Bank. Schon am Sonntag war Rolf Breuer überraschend als Aufsichtsratschef der Deutschen Bank zurückgetreten. Denn im Januar hatte der Bundesgerichtshof entschieden, dass der Medienunternehmer Leo Kirch Schadenersatz verlangen kann, weil Breuer in einem Interview Kirchs Kreditwürdigkeit negativ beurteilt hatte; wenig später war der Medienkonzern Pleite gewesen. Breuers Rücktritt bescherte der Deutschen Bank gestern an der Börse zwischenzeitlich ein Plus von 1 Prozent. Noch stärker legte Adidas zu. Die Aktien stiegen um bis zu 3 Prozent, weil das WM-Geschäft besser läuft als erwartet. In den vergangenen drei Jahren ist der DAX um 171 Prozent gestiegen. Doch anders als bei der New Economy fand dieser Aktienboom lange ohne Anteilnahme der Öffentlichkeit statt. Selbst professionelle Anleger wie etwa Versicherungskonzerne fingen spät an, wieder in Aktien zu investieren. Erst jetzt interessieren sich viele Privatanleger für die Börse, wo der Boom vorbei sein könnte (siehe Interview).

Die DAX-Konzerne haben im vergangenen Jahr einen durchschnittlichen Gewinnzuwachs von fast 30 Prozent hingelegt. Für dieses Jahr wird ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 14 erwartet. Vor der Jahrtausendwende, mitten in der New-Economy-Blase, hatte der Wert der Aktien mehr als das 30-Fache der Gesamtgewinne ausgemacht. Bislang sieht es nicht nach spekulativer Blase aus.

Die Unternehmen profitieren nicht zuletzt von geringen Kosten. So sind die Zinsen sehr niedrig, was Investitionen vergleichsweise preiswert macht. Andererseits sind auch die Lohnkosten kaum gestiegen. Viele Konzerne haben zudem Massenentlassungen vorgenommen. Die Deutsche Telekom etwa, die vor einem Monat ihren Aktionären die höchste Dividende in der Konzerngeschichte versprach, hat im vergangenen November den Abbau von 32.000 Stellen bis zum Jahr 2008 angekündigt. Seither ist der Kurs der Telekom-Aktie um satte 24 Prozent in die Höhe geschossen.

Ein weiterer Grund für die Attraktivität des DAX: Die Zinsen und damit die Renditen von festverzinslichen Anlagen sind gering. Immobilien erscheinen vielen riskant, seit die Deutsche Bank im Dezember einen ihrer Immobilienfonds vorübergehend schloss. Und nicht zuletzt hoffen die Auguren, dass die Konjunktur nun endlich anspringt. Im März klang der Geschäftsklima-Index des Münchner Ifo-Instituts beinahe euphorisch. Kunden wollen angeblich wieder kaufen, Unternehmen wieder investieren.

Das bringt jedoch Risiken mit sich. Denn steigende Nachfrage führt leicht zu steigenden Preisen. Um das Inflationsrisiko einzudämmen hat die Europäische Zentralbank (EZB) schon zweimal ihren Leitzins um jeweils einen viertel Prozentpunkt auf jetzt 2,5 Prozent angehoben. Am Donnerstag könnte der nächste Zinsschritt folgen, auf jeden Fall aber hat die EZB weitere Zinserhöhungen angekündigt. Steigende Zinsen aber verteuern Investitionen. Gleichzeitig lassen sie Anleger stärker zu festverzinslichen Papieren greifen.

Das vermutlich größte Risiko aber kommt aus den USA, wo der Aufschwung viel früher begonnen hat. Jetzt steht der Leitzins der US-Notenbank bereits gefährlich hoch bei 4,75 Prozent. Die Privathaushalte sind überschuldet. Der Immobilienboom, der vielen Amerikanern das Gefühl von Reichtum vermittelte, könnte bald kippen. Wenn aber in den USA ein Crash stattfindet, dann wird auch der deutsche Exportboom ein jähes Ende finden – und mit ihm wohl der noch junge Aktienboom.

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