Wenn die Möhren Augen kriegen

Wenn uns das Essen mit seinen Blicken frisst: Mit zunehmender Wirrniss des Service-Personals endet heute die „Virtuelle Reiseshow“ auf Kampnagel. Als besonderes Highlight winkt das Studium der Teppichkanten

Donnerstag, 6. 4., 20.30 Uhr, Kampnagel

Warum nicht einfach manisch werden? Vielleicht wäre es ja die Lösung. Eine Möglichkeit, endlich nicht mehr funktionieren zu müssen. Einfach ein Kainsmal auf der Stirn zu haben, das einen von Schuldfähigkeit und Strafe befreit. Die drei Figuren jedenfalls. die den „Travelling Light Guide“, eine vor fünf Monaten begonnene Triologie auf Kampnagel, heute zu Ende führen, flüchten irgendwann tatsächlich vor sich – und ihrer en passant entwickelten Manie.

Das Drama in Kürze: Nach einer langen, sorgsam vorausgeplanten, dann aber doch wirr verlaufenen Reise sind die drei Performer von Reproducts und der Gruppe a.B. in einem Hotel im Nirgendwo angekommen. Als Servicekräfte tun sie dort ihren Dienst – allerdings nicht, ohne sich im Versuch zu verheddern, die eigene Entwurzelung durch die Aneignung fremder Schicksale zu überbrücken.

Ihre Kunstwerke stehlen sie nämlich den durchweg kreativen Gästen des Hotels – vornehmlich Musikvideos, die auf die rückwärtige Kampnagel-Wand projiziert werden. Menschenlose, bis vor Minuten noch bewohnte Hotelzimmer sind da zu sehen, verschiedenerlei Abdrücke in Kopfkissen sowie die aparte Teppichkantenführung so mancher Herberge – wobei sich die Künstler vornehmlich für die „graphische Komponente“ interessieren, wenn auch solche Forschungen immer latent anthropologisch sind.

„Aber die Geschichten wollen wir selbst erzählen“, sagt Akteur Stefan Eckel. „Geschichten, die wir zu den Bildern erfinden, die wir unseren Gästen, die wir übrigens nie treffen, gestohlen haben.“ Die Pelzfreunde gibt es da zum Beispiel: fünf Frauen und ein Mann, die ihr eigenes kleines Eifersuchtsdrama spielen und dabei gefährlich in Flammen geraten.

Eine Collage mit on TV genannten Zahlen haben sie – auch Resultat der hotelinternen Raubzüge – außerdem erstellt; „es sind Rechenaufgaben, bei denen immer 625 herauskommt.“ Warum? Wer weiß. Schlechtes Gewissen? Haben sie nicht, die drei Wurzellosen, die sich doch längst im Bereich des latenten Wahnsinns angekommen wähnen und – man hatte es schon befürchtet – prompt damit beginnen, sich vom Essen angestarrt zu fühlen; für Service-Kräfte keine sonderlich hilfreiche Form der Paranoia.

„Es gibt etliche solcher Bilder in Kochbüchern der 50er und 60er Jahre“, sagt Eckel. „Eier mit Augen, Orangen als Elefanten und Ähnliches sind darin zu finden.“ Schon immer habe er sich angesichts solcher Abbildungen gefragt, „wohin diese Kommunikation denn führen soll. Denn die Lebensmittel schauen mich zwar an, aber sie sagen ja nichts. In unserem Wahnsinns-Zustand gegen Ende der Performance aber können wir ihre Botschaft endlich hören, und sie ist gar fürchterlich“: Geschichten vom Wahnsinn vorgefertigter Wahrnehmung sind da zu erfahren, von der starr machenden Vorsortierung der Umwelt, die einen zwar davor bewahrt, vom Auto überfahren zu werden. Die aber auch verhindert, dass sich manche Nuancen des Alltags bemerken lassen.

Als westeuropäischer Erwachsener sieht man ja gar nicht genau hin. Und genau dies, sagt Eckel, gelte es zu überwinden, „auch tabubehaftete Denkmodelle“ – etwa im Zusammenhang mit dem „Faschismus-Trauma“ der Deutschen, die im Ausland so oft mit der Nazi-Vergangenheit konfrontiert werden, dass sie Fragen und Antworten fast schon im Voraus bedenken. „Freundlicher Abstand von kollektiven Schuldzuweisungen könnte hier eine Lösung sein“, sagt Eckel. Sich von der selbst gebauten Paranoia zu entfernen, lohne sich auch in kleiner Nuance. Nicht erst dann, wenn die Möhren Augen kriegen.

PETRA SCHELLEN