Servicewüste Wüste

Wie mich einmal in der Ramlat al-Wahiba ein gewaltiger Bierdurst überkam

In der Wüste würde etwas Außergewöhnliches mit mir geschehen, meinten die Führer

Es war kurz vor sechs Uhr. Früher am Tag hätte es auch nicht sein dürfen. Die Sonne brannte noch immer erbarmungslos herab, und die staubige Luft mochte gut 50 Grad heiß sein. Ich blickte den Abhang hinunter. An der Spitze der honiggelben Düne kräuselte sich eine feine Sandböe und verschwand dann in der Tiefe. Es gab nichts als Sand, der da lag und davonwehte und hochschoss und herabrieselte und frech überall eindrang, in jede Pore, in Augen, Ohren, Nase. Ich war Sand.

Das also war sie, die Wüste, von der die Führer ehrfürchtig erzählt hatten. Mit leicht zitternder Stimme. Sie sei mörderisch, aber auch unendlich schön. Einen Hauch von Ewigkeit würde ich spüren. Es sollte etwas Besonderes mit mir geschehen. Ich suchte mit den Augen die flirrende Hitze und Helligkeit zu durchdringen, und dann geschah tatsächlich etwas Außergewöhnliches: Ich musste an Günter Gaus denken.

Damals war es ebenfalls kurz vor sechs Uhr. Ich stand durstig an der Bar. Weit und breit war kein Barkeeper zu sehen. Mit einem Mal tauchte Günter Gaus neben mir auf. Gaus war vom ganz alten Journalistenschlag. Hartgesotten wie er war, trank er mitunter bereits mittags den ersten Whiskey, weshalb für den Fall, dass er zu Besuch in die Redaktion kam, immer eine Flasche im Panzerschrank aufbewahrt wurde. Nach zwei, drei Gläsern zuckelte er dann mit seinem Rover gemächlich über die Autobahn zurück nach Reinbek. Jetzt an der Bar fragte er mich: „Gibt es schon etwas zu trinken?“, und ich antwortete ihm: „Noch nicht, wahrscheinlich erst ab sechs.“ Seine Zunge schien am Gaumen zu kleben, so trocken kam der Spruch: „Um sechs, wenn in Hongkong die Sonne untergegangen ist.“ Ich lachte. Erst viel später erfuhr ich, dass es ein alter Trinkspruch britischer Kolonialoffiziere war.

Die Wüste hatte meinen Mund ausgedörrt wie ein eingetrocknetes Flussbett. Drei Flaschen Wasser waren noch im Beutel. Harnwarmes Wasser. Die letzte Reserve. Durst hatte mich ergriffen. Kein gewöhnlicher Durst. Ich sah mich zum Kühlschrank schlendern. Ich öffnete die Tür. Ich zog eine Flasche heraus. Ich wiegte das kalte dunkle Glas in meiner Hand. Ich ließ den Bügel zurückschnellen. Ich hörte das Ploppen. Ich saugte das Zischen durch die Gehörgänge ein. Ich setzte den Flaschenhals an. Ich öffnete die Lippen. Ich ließ die Flüssigkeit hinabsprudeln. Aaaaaaaahh … Mich hatte der mächstigste Bierdurst aller Zeiten überwältigt.

Ich öffnete die Augen. Wäre nur noch etwas Flüssigkeit in mir gewesen, hätten sich Tränen der Hoffnungslosigkeit in ihnen gesammelt. Ich sah mich um, doch da war nichts. Wer je über die Servicewüste Deutschland geflucht hat, kennt die arabische Wüste nicht. Jetzt hätte ich sogar die schlimmste Geißel der Menschheit freudig begrüßt: Heineken. Der holländische Schrecken der sieben Weltmeere.

Seit zwölf Stunden waren wir unterwegs. In einer Dreierkolonne Geländewagen. Unseren Landrover steuerte Mahmud mit stoischem Gleichmut durch Wüste und Wadis. Wir hatten die Wachtürme eines gigantischen lehmfarbenen Wüstenforts bestiegen mit seinen verzweigten Geheimgängen und seinem süßlich duftenden Dattellager. Wir hatten auf der Flucht vor der Mittagssonne unser Lager im Wadi Bani Khalid aufgeschlagen, einer von Dattelpalmen umsäumten Oase, deren kleiner See aus einer Quelle im schroffen Felsgebirge gespeist wird. Wir hatten Beduinen getroffen, und die jugendlichen Räuber hatten alles eingesackt, was nicht niet- und nagelfest war. Wir hatten am Boden hockend ein osmanisches Essen eingenommen: geschredderter Hai in einer seltsam blauen Curry-Sauce. Das jedenfalls muss das Gericht gewesen sein, das der Sansibari uns mit Händen und Füßen versucht hatte zu erklären. Doch selbst der scharfe Hai hatte keinen solchen Durst verursacht wie die Ramlat al-Wahiba, die sich nun verdunkelte und das Allerletzte aufbot, was wir jetzt gebrauchen konnten: einen Sandsturm.

Die Tücher mochten nicht verhindern, dass noch mehr rötlicher Sand in die hintersten Winkel der Augen, Ohren, Nase eindrang. Kein Bier beschützte mich. So hieß es warten und sich die Rückfahrt vorstellen. Bei der bis auf den Fahrer und ich alle Mitreisenden einnicken würden. Ich würde auf die Straße starren, während Mahmud das Gaspedal durchdrückte. Selbst ein Reifenplatzer am Wagen vor uns würde ihn nur kurz aus der Bahn werfen: „Jalla, jalla.“ Schnell, schnell. Er würde eine perfiderweise „Erfrischungsstopp“ genannte Pinkelpause einlegen, und ich würde derweil das kleine Hotel an der Landstraße nach einem Kühlschrank durchstöbern und wahrhaftig einen finden mit Orangen-, Limonen- und Mangosäften, mit Coca-Cola, Fanta, Sprite, Ginger Ale und Tonic Water. Nur Bier würde es zum Verrecken keines geben. O du teuflischer Gevatter Bierdurst!

Und wundersamerweise würden wir nach zwei Stunden rasender Fahrt durch die Dunkelheit unversehrt heimkehren. Ich würde völlig verstaubt in die „Pianobar“ gehen, mich an die Theke stellen und, au fein, ein Frisches bestellen. Die philippinische Bedienung würde ein weißes Tüchlein hinlegen und das Glas darauf stellen. Ich würde es anheben und ihr zuprosten: „Auf Hongkong, wo die Sonne längst untergegangen ist.“ Und sie würde lächeln. MICHAEL RINGEL