Kronprinzen und Kometen

Dokumentationen ohne dokumentarische Anteile sind der Renner auf der weltgrößten Programm-Messe Mip TV. Und deutsche Sender produzieren fleißig mit bei den neuen Unterhaltungsformaten

Aus Cannes Wilfried Urbe

„Nichts ist so spannend wie die Realität“, mit dieser nicht eben revolutionären Feststellung beschreibt WDR-Kultur-Chef Helfried Spitra einen Programmtrend, der in den letzten Jahren bereits allmählich anlief und der jetzt offenbar auf der aktuellen Mip TV in Cannes an seinen Höhepunkt gelangt. Geschichten aus dem „wahren Leben“ als „Entertainment“ – die wurden an den meisten Ständen der weltgrößten Programm-Messe (siehe Kasten) haufenweise angeboten. Auch Programmscout Jan Tibursky sollte für verschiedene Sender „neue Non-Fiction-Programme, mit dem Schwerpunkt Entertainment“ finden. Und er wurde fündig: etwa mit den „verrücktesten Autos der Welt“ oder den „größten Explosionen der Welt“, auch die englische Produktion, „Die Welt in 50 Jahren“, fand er spannend.

Deutsche sind in diesem Genre, einer Mischung aus allen möglichen Stilelementen, mittlerweile ebenfalls verstärkt unterwegs, zumindest finanzieren sie mit. Etwa das ZDF. Mit „Dokumentationen, die keine dokumentarischen Anteile mehr enthalten“, wie der Kulturchef der Mainzer Peter Arens sagt. So wie „Armageddon“ – die Simulation eines Kometenaufschlags auf der Erde. Das Katastrophenszenario wird gemeinsam mit dem US-Sender National Geographic für anderthalb Millionen Euro produziert. Eine riesige Summe, wenn man bedenkt, dass früher Budgets von 400.000 Euro als oberste Grenze galten. Aber immer noch günstiger als eine aufwendige fiktionale Produktion auf dem gleichen Sendeplatz. Da hat offenbar die BBC mit ihren Mammutproduktionen Standards gesetzt. Beim ZDF sind in ähnlicher Machart eine ganze Reihe von Projekten in Planung, beispielsweise über die mittelalterlichen Städte im „Dark Age“.

„Das ist eine Weiterentwicklung des Dokudramas: ohne belehrenden Kommentator, wie ein Spielfilm, und Primetime-fähig.“ Jens Richter, Geschäftsführer von SevenOneInternational spricht dabei nicht über das ZDF, sondern über eigene Projekte, die thematisch teilweise mit denen vom ZDF identisch sind. Etwa „Comet Impact“, ebenfalls ein Weltuntergangsszenario, das einen Kometeneinschlag zum Thema hat. Fünf Millionen Euro soll der 90-Minüter kosten. Möglich wird das durch die Zusammenarbeit mit Channel 5, Discovery, M6 und ProSieben. Die Lizenzierung in andere Länder soll den Film zusätzlich finanzieren. Richter: „Stoffe, die auf diese attraktive Art Wissen vermitteln, sind natürlich für ein internationales Massenpublikum geeignet und damit auch wirtschaftlich wesentlich interessanter.“

WDR-Mann Spitra sieht das skeptisch: „Wir graben uns unser eigenes Grab, wenn wir uns an die BBC angleichen. Je größer die Budgets, desto abhängiger wird man – solche Projekte müssen um jeden Preis zum Erfolg geführt werden. Authentizität spielt dabei eine nur untergeordnete Rolle.“ Die großen Budgets würden auch einen ganz anderen Typus von Produzenten fördern: „Derjenige, der beseelt von seinem Projekt vielleicht ein Budget von einigen hunderttausend Euro hat, ist mehr mit dem Inhaltlichen verbunden als der mit den Millionen, dem es nur ums Geld geht und der um jeden Preis verkaufen will und muss.“ Er resümiert: „Für uns bleibt Glaubwürdigkeit die wichtigste Regel, und eine klare Trennung von Dokumentarischem und Fiktionalem.“

Dass dieser für viele konservative Ansatz immer noch funktionieren kann, zeigt die Nachfrage beim öffentlich-rechtlichen Vertrieb German United Distributors: „Rendesvouz mit dem Tod“, eine klassische investigative Dokumentation über den Kennedy-Mord, verkaufte sich während der Mip TV in 20 Länder. Ulrich Brochhagen vom MDR mahnt: „Wir sollten uns auf unsere dokumentarische Stärke konzentrieren. Die Zuschauer wollen zwar unterhalten werden, aber auch etwas lernen. Spielszenen sollte man den Profis in diesem Bereich überlassen, die können es besser und haben einfach auch wesentlich größere Budgets.“

Ein „Profi“ in diesem Bereich ist der Altmeister aufwändiger internationaler TV-Koproduktionen, Jan Mojto. Beim traditionellen Treff der deutschen Fraktion stand nach „Dresden“ erneut eine „Event“-Produktion im Mittelpunkt, die sich an einem tatsächlichen historischen Ereignis orientiert: „Kronprinz Rudolf“, die Geschichte um den Sohn des letzten österreichischen Kaisers, der sich das Leben nahm. Das nächste Großprojekt von Jan Mojto ist bereits in Arbeit: „Flucht und Vertreibung“. Die Dreharbeiten für das, so Mojto, „deutsche ‚Gone with the Wind‘“ über die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs laufen noch bis Juni in Litauen und Deutschland.