IM GEFÄNGNIS
: Echte Piraten

„Hallo“, sagt er mit rollendem Seemannsbass

Gestern war ich im Knast vorlesen. So nervös war ich das letzte Mal, als ich zum ersten Mal bei den Surfpoeten ans offene Mikro gegangen bin: „Und wenn ich irgendwen beleidige? Wenn ich was gegen Männer, Nazis oder Türken sage? Wenn ich mich als behütete Bildungsbürgertussi oute?“ „Reg dich doch nich so auf!“, sagt mein Freund, „das ist eine Männer-JVA, und du bist eine Frau. Es ist völlig egal, was du da machst, solange sie dich dabei sehen können.“

Die Kollegen sagten, das sei ein Freigängerknast, nicht die ganz Bösen oder zumindest die, die schon resozialisiert wurden. Trotzdem war das einzige Bild, was mir zu Kunst im Knast in den Kopf kommen wollte, Johnny Cash, der vor einer rasenden Meute Schwerverbrecher den „Folsom Prison Blues“ spielt, direkt gefolgt von der Ausbruchsszene in „Natural Born Killers“.

Und dann sind wir da. Das Gefängnis sieht aus wie eine Ferienwohnanlage. Glas, Stahl, Holz, Sandstein. Wir lesen in einem hohen, freundlichen Raum mit vielen Topfpflanzen. Vor uns sitzen harte Kerle mit vor der Brust verschränkten Armen. Lange können sie sich das Grinsen nicht verkneifen. Zwischendurch spielen drei Insassen Gitarrenblues. Der zirka 60-jährige Sänger trägt unterm Hut die Reste eines Zopfes. „Hallo“, sagt er in rollendem Seemannsbass, und meine Nervosität ist wie vom Winde verweht. In der Pause erzählt er, dass er Kapitän war. Auf einem Drogenschmugglerschiff. „In der Karibik!“, sagt er. „Ein Pirat!“, denke ich, „ein echter Pirat!“, und überlege, wie er wohl mit Kajal um die Augen und bunten Bändern in den Haaren aussehen würde.

Als wir später gut gelaunt aufbrechen, sehe ich ein selbst gemaltes Schild, das in einem der Blumentöpfe steckt: „Bitte keine Getränkereste in die Blumen kippen, die werden davon krank!“ „Das ist der Besucherraum“, erklärt Johnny Depp. „Kannst mich ja mal besuchen kommen“, fügt er hinzu und zwinkert.

LEA STREISAND