Lautes Gutmenschentum

Das Geschäft der Oper: Peter Sellars inszeniert Amin Maaloufs und Kaija Saariahos Stück „Adriana Mater“ an der Opéra Bastille in Paris nahe am Blut-und-Boden-Kitsch

Kaija Saariaho dürfte bald die Top-Lieferantin von anheimelnder Heimatkunst sein

Kunst hat allemal sozialen Kontext. In besonderer Weise das Theater. So kam es, dass die Uraufführung von „Adriana Mater“ in der Pariser Oper zunächst auf dem Altar der sozialen Antagonismen als Opfer landete – die Premiere fand zunächst einmal nicht statt. Im Rahmen der allgemeinen Auseinandersetzungen um die künftige Gestaltung des französischen Arbeitsrechts scheiterten die Verhandlungen von Directeur Gérard Mortier mit den so genannten Intermittents, den Bühnenarbeitern, kurzfristig.

Im zweiten Anlauf konnte die Pariser Nationaloper jedoch zeigen, wie sie das Musiktheater auch an Stoffe und Probleme der Gegenwart heranführen will. Sie rief Peter Sellars als Geburtshelfer an die Bastille, der von einem halben Menschenalter „Don Giovanni“ in die Bronx und „Così fan tutte“ an den Highway verpflanzte, sich dann insbesondere durch zwei von John Adams mit Minimal Music bedachte Projekte profilierte: „Nixon in China“ (zum Staatsbesuch des US-Präsidenten bei Mao) und „The Death of Klinghoffer“ (zur Entführung des Kreuzfahrtschiffs „Achille Lauro“ durch palästinensische Terroristen) katapultierten die amerikanische Oper „auf die Höhe der Zeit“.

Nun servierte er ein weiteres Werk mit großer Nähe zur gewalttätigen Gegenwart: „Adriana Mater“, die zweite große Oper von Kaija Saariaho. Die 1952 in Finnland geborene, seit einem Viertel Jahrhundert in Paris lebende Komponistin machte sowohl in konventioneller Schreibweise auf sich aufmerksam wie mit klangschöner elektronischer Musik, und in den 80er-Jahren auch mit der effektvollen Verbindung von beidem. Saariahos erstes Bühnenwerk wurde von Mortier für die Salzburger Festspiele 2000 geordert: Die von Amin Maalouf als Parallel- und Gegenstück zu Wagners „Tristan“ konzipierte „L’amour de loin“ setzte Sellars in der Felsenreitschule mit einer edlen Wasserlandschaft von George Tsypin in Szene.

Tsypin und Maalouf, der aus dem Libanon stammende Dichter, waren nun in Paris ebenfalls wieder mit von der Partie. Ein eingespieltes Team steuerte an der Opéra Bastille auf Erfolgskurs: Es geht, politisch korrekt eingekleidet, um Vergewaltigung im Zusammenhang von Kriegshandlungen, mit hinreichend deutlichen Hinweisen auf den Balkankonflikt im letzten Jahrzehnt. Die lebenslustige Adriana, so Maaloufs Plot, wird allerdings nicht von einem feindlichen Soldaten angegriffen, sondern von einem Helden aus den eigenen Reihen: Tsargo holt sich als „Verteidiger“ ihres Dorfs mit Gewalt, was ihm zuvor lachend verwehrt worden war.

Ein spätexpressionistisch-prächtiges Dräuen aus dem Orchestergraben illustriert das Kriegs- und Gewaltpanorama. Aus dem Off türmen sich die Vokalisen des Chors wie dunkle Wolken. Den Kunst-Balkan (oder Maghreb) deutet Tsypin durch hermetische Mauern an und Kuppeln aus alabasterartigem Kunststoff. Sinnfällig tändelt der Tonsatz zum Getechtel zwischen dem angetrunkenen Milizionär und der selbstbewussten Adriana. Und rot erglühen die geduckten Dächer des Dorfs, nachdem der rohe Mann sie ins Innere ihres Hauses drängte. Adriana lässt das Kind, das aus dem auch musikalisch drastisch illuminierten Gewaltakt resultiert, nicht abtreiben. In feiner gewirkten Klangschwebezuständen, die an Debussys „Mélisande“ erinnern, erwägt sie, dass es „das Blut“ des Opfers wie eines Täters in sich habe. Zwei Jahrzehnte später – Panzerteile und Helikoptertrümmer schmücken das ruinierte Dorf dekorativ – kommt Sohn Yonas der Legendenbildung von Mutter und Tante auf die Spur und will zum Rächer werden. Indem die vier Protagonisten nun im gleißenden Licht Hände und Fäuste, mit und ohne Gewehr, zum Himmel recken, kommt die vom Dirigenten Esa-Pekka Salonen effektvoll servierte musikalische Beschönigung in lang gezogener Mildtätigkeit und mit knetenden Sekundschritten nieder und Yonas lässt von seinem Vorhaben ab. Das schlicht-tonale Unisono der Streicher wird von silbernem Klingeling garniert: „Die Tore der Hölle können sich schließen“. Amen.

Beifall, großer sogar, nicht nur für die Mezzosopranistin Patricia Bardon in der Titelpartie, den lockeren Tenor des jungen Kanadiers Gordon Gietz (Yonas) und den Bassisten Stephen Milling in der Rolle des Bösewichts, sondern auch für die „erfolgreichste Komponistin“ und ihre Melange aus dekorativ-sensiblem Klanggespür und rustikalem Geschäftsinstinkt. Was ihr Landsmann Jean Sibelius im 20. Jahrhundert für den Seelenhaushalt eines emotional verunsicherten Bürgertums bedeutete, könnte Kaija Saariaho in unserer Zeit werden.

Das ohrenbetäubende Gutmenschentum von Maalouf und Sellars gleitet ab in gemeinen Kitsch. Die Inszenierung von Peter Sellars ging zur Blut-und-Boden-Grundierung des Stücks in keiner Weise auf Distanz, überhöhte diese sogar durch die naivische Ausstattung und verschärfte das schlichte Gut-Böse-Schema. Die Durch-die-Nacht-zum-Licht-Dramaturgie der Musik funktioniert hemmungslos. Kaija Saariaho ist auf dem Weg, zur Top-Lieferantin von anheimelnder Heimatkunst in der unbehausten globalisierten Welt zu avancieren. Schade, dass dies nicht bestreikt werden kann.

FRIEDER REININGHAUS