Die Entscheidung

WAS ZUR WAHL STEHT Die Deutschen wollen offensichtlich nur eins: Merkel plus. Offen ist nur: plus SPD oder plus FDP? Die Unterschiede liegen im Detail VON STEFAN REINECKE UND BARBARA DRIBBUSCH

Wenn man es realistisch sieht, stehen am Sonntag zwei Koalitionen zur Wahl: Schwarz-Gelb und die Große Koalition. Das sind – Überraschung – die beiden Vorgängerregierungen. Die Deutschen wollen offenbar das, was sie kennen: Merkel plus. – Ist also alles egal? Ist es ein Unterschied, mit wem die Union regiert? In der Vergangenheit war das so. In der Großen Koalition bis 2009 war sie jedenfalls zu erstaunlichen programmatischen Dehnungsübungen fähig. In der Krise ließ Merkel sich von der SPD widerwillig zu einem keynesianistischen Konjunkturprogramm drängen.

Die SPD-Linke hat schon einen Wunschzettel für die Große Koalition geschrieben. Höherer Spitzensteuersatz, flächendeckender Mindestlohn, mehr Rente, Abschaffung des Betreuungsgeldes und doppelte Staatsangehörigkeit stehen darauf. Ist das realistisch? In einer Großen Koalition würde die SPD, anders als 2005, nicht auf Augenhöhe mit der Union regieren, sondern als deutlich schwächere Kraft.

Wie also sieht es aus mit Außenpolitik, Energiewende, Steuern, Rente, Vorratsdatenspeicherung? Eine Skizze, was in den nächsten vier Jahren bei einer Großen Koalition oder bei Schwarz-Gelb zu erwarten ist:

Steuern: Die Union hat 2013 zwar beteuert, dass sie keine Steuern erhöhen will. Und dass mit den rot-grünen Steuerplänen das Abendland wenn nicht unter-, so doch pleiteginge. Aber nach der Wahl ist vor der Steuerschätzung. Die Große Koalition hatte auch 2005, ohne sich um SPD-Wahlversprechen zu kümmern, die Mehrwertsteuer erhöht.

Höhere Belastungen für Reiche liegen im Zeitgeist. In einer Großen Koalition müsste die SPD als Merkels Juniorpartnerin Erfolge vorweisen. Das kann gut eine Erhöhung der Spitzensteuersätze bedeuten. Merkel könnte Steuererhöhungen als schmerzliches Opfer inszenieren, das sie leider der SPD bringen muss. Die Vermögensteuer wird allerdings kaum kommen. Von Steuersenkungen redet kaum noch jemand, nicht mal mehr die FDP. Und im Bundesrat geht für Schwarz-Gelb eh nichts.

Fazit: Unter Schwarz-Gelb passiert nichts mit den Steuern. In einer Großen Koalition sind leicht angehobene Steuern für Wohlhabende wahrscheinlich.

Außenpolitik: Falls nach Guido Westerwelle wieder sein Vorgänger, SPD-Mann Frank-Walter Steinmeier, im Auswärtigen Amt regiert, ändert sich – gar nichts. Keine Bundesregierung wird die Bundeswehr an militärischen Interventionen beteiligen.

Fazit: Die Außenpolitik einer Großen Koalition wird sich von Schwarz-Gelb kaum unterscheiden.

Euro: Angela Merkel hat zwei Ziele: Der Euro soll in jetziger Form erhalten bleiben, Südeuropa wird gusseisern zum Sparen in der Krise gezwungen. Bei Schwarz-Gelb ist keine Kurskorrektur zu erwarten. Mit der SPD – auch nicht. Die SPD hat schon als Opposition Merkel im Bundestag in allen wichtigen Euroabstimmungen gestützt. In der Regierung wird sie das erst recht tun. Eurobonds durchzusetzen traut sich die SPD nicht. Und für Merkel ist das Image, dass sie die deutschen Interessen in der EU vertritt und „unser Geld zusammenhält“, ihre politische Lebensversicherung.

Fazit: Auch eine Große Koalition würde Südeuropa eisern zum Sparen zwingen.

Rente: Union und SPD haben darin gewetteifert, wer das größte Herz für Kleinrentner hat. Bei der SPD heißt das neue Konstrukt Solidarrente, bei der CDU Lebensleistungsrente. Bei beiden bekommt, wer mindestens 40 Jahre lang rentenversichert war, mindestens 850 Euro brutto. Falls Schwarz-Rot regiert, werden die Kleinrenten also irgendwie erhöht. Außerdem dürfte eine Große Koalition auch die Versicherungspflicht für Selbstständige in der Rentenversicherung vorantreiben.

Die FDP schlägt hingegen nur vor, dass arme Ältere auf Grundsicherung mehr Geld von ihrem Ersparten behalten können. Eine Zusatzrente lehnen die Liberalen aber ab – und werden sie in einer schwarz-gelben Regierung verhindern.

Fazit: Eine Große Koalition wird wahrscheinlich die Kleinrenten aufstocken. Sonst bricht sie ihre Wahlkampfversprechen.

Pflege: Die Union ist für eine moderate Erhöhung des Beitrags zur Pflegeversicherung, die SPD will die Beiträge deutlicher erhöhen, um die Bedingungen in der Pflege zu verbessern. Die FDP setzt vor allem auf private Vorsorge.

Fazit: In einer Großen Koalition steigen die Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung stärker als unter Schwarz-Gelb. Mehr Geld fließt in den Pflegebereich.

Mindestlohn: Union und SPD sind beide für eine Mindestlohnkommission von Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften, die sich auf Lohnuntergrenzen einigen soll. Nach dem Konzept der Union soll die Kommission aber nur in tariflosen Bereichen branchen- und regionalspezifische Mindestlöhne festsetzen. Die SPD dagegen will eine einheitliche Lohnuntergrenze, die für alle Branchen gilt und bei 8,50 Euro liegen soll. Die FDP lehnt einen in Deutschland einheitlichen Mindestlohn ab.

Fazit: Ob sich die SPD mit einer einheitlichen Lohnuntergrenze in einer Großen Koalition durchsetzen könnte, ist sehr fraglich. Die Union scheut die Zentralisierung in der Lohnfestsetzung.

Migration: SPD und FDP wollen die doppelte Staatsbürgerschaft. Doch die Union sperrt sich noch immer dagegen, wenn auch nicht mehr so halsstarrig wie vor 15 Jahren. Experten vermuten, dass die doppelte Staatsangehörigkeit sowieso kommt. Irgendwann. Denn nur so wird die Zahl der Einbürgerungen in Deutschland steigen. Und das wollen eigentlich alle. In einer Großen Koalition könnte die SPD vermutlich mehr Druck auf die Union ausüben, als eine schwache FDP dies könnte.

Fazit: Eine Große Koalition erhöht die Chancen für die doppelte Staatsbürgerschaft.

Familienpolitik: Die FDP will das Betreuungsgeld abschaffen, die SPD sowieso. Nur: Die Chance für beide, dies gegen die CSU durchzusetzen, sind sehr überschaubar. Gerade nach Seehofers Wahlerfolg in Bayern.

Fazit: Die CSU wird das Betreuungsgeld verteidigen – daran dürften werden SPD noch FDP rütteln können.

Mieten: Die Union ist noch schnell Richtung sozial abgebogen und hat sich an den Vorschlag der SPD gehängt, die Miethöhe bei Neuvermietungen zu deckeln. Bei Wiedervermietungen sollen in Gebieten mit besonders angespanntem Wohnungsmarkt nur noch Erhöhungen auf höchstens 10 Prozent über dem ortsüblichen Durchschnitt erlaubt sein. Die FDP ist wie erwartet gegen Marktregulierung. Und hat gute Chancen, die Union zu bremsen. Die Umlage von Modernisierungskosten auf die Mieten will die SPD nur ein bisschen strecken.

Fazit: In einer Großen Koalition dürfte für MieterInnen in nachgefragten Regionen eine leichte Deckelung kommen. Die Mietpreise dürfen dann bei Wiedervermietungen nur noch auf bis zu 10 Prozent über dem Mietspiegel steigen.

Energiewende: Wie viel wird von der Energiewende übrig bleiben, wenn Schwarz-Gelb bis 2017 regiert? CDU-Umweltminister Peter Altmaier versichert zwar, dass auch Schwarz-Gelb das Projekt weiterführen wird. Doch in der CDU gibt es einen einflussreichen Flügel, der den Umstieg auf erneuerbare Energien stark ausbremsen will.

Die FDP plädiert offen für einen Ausbaustopp beim Ökostrom. Sie hat auch schon einen konkreten Plan, wie sie den umsetzen will: Die bisher aufgeteilte Zuständigkeit für das Thema Energie soll komplett ins Wirtschaftsministerium verlagert werden – und damit in den Zuständigkeitsbereich der FDP.

Bei einer Großen Koalition wäre die Gefahr einer Vollbremsung deutlich geringer. Zwar sind Union und SPD mit der klassischen Energieindustrie verbandelt. Aber die SPD hat schon in der letzten Großen Koalition erkannt, dass sich mit Umweltthemen punkten lässt.

Fazit: Der Ökoumbau würde in einer Großen Koalition weitergehen, unter Schwarz-Gelb hingegen abgebremst.

Datenschutz: Die EU schreibt seit 2006 vor, dass Telefon- und Internetanbieter sechs Monate speichern müssen, mit wem ihre Kunden von wo aus wie lange telefoniert und an wen sie eine E-Mail oder eine SMS geschickt haben. Doch FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat, unterstützt von einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, verhindert, dass die Vorratsdatenspeicherung hierzulande umgesetzt wird. Die Speicherung verstoße gegen Grundrechte. Die Union allerdings will die Vorratsdatenspeicherung. Sie glaubt, man könne so Straftaten besser aufklären. In der Großen Koalition wird die Union dies auch umsetzen: Die SPD ist auch pro Vorratsdatenspeicherung.

Fazit: Mit der Großen Koalition kommt die Vorratsdatenspeicherung. Mit Schwarz-Gelb eher nicht.

Und wen soll ich jetzt wählen? Wem ein kleines bisschen höhere Steuern für Reiche, Mindestrente und Energiewende wichtig sind, ist bei SPD, Grünen oder Linkspartei richtig. Wen man von den drei Parteien wählt, ist relativ egal: Es ist voraussichtlich so oder so eine Stimme für eine Großen Koalition. Bei Europolitik und Mindestlohn, Familienpolitik und doppelter Staatsangehörigkeit wird der Unterschied zwischen Großer Koalition und Schwarz-Gelb nicht so ins Gewicht fallen.

Mitarbeit: Malte Kreutzfeldt, Svenja Bergt