Zeugen einer gestohlenen Jugend


Hakan und Samet haben zu Hause keine Großväter, die vor mehr als sechzig Jahren fremde Länder überfallen haben

AUS OTTERSUM HENK RAIJER

Machtübernahme, Anschluss und Judenvernichtung schon, aber Zwangsarbeit? „Nicht vorgesehen im Lehrplan“, sagt Andreas Kaiser und nestelt dabei an dem filigranen Ring in seinem linken Ohr. „Zwei Stunden haben wir das Thema NS-Zwangsarbeit in Eigenregie durchgenommen, jetzt muss ich zusehen, wie ich den vorgegebenen Stoff nachträglich reinkriege“, sagt der blonde Jeansträger, Mitte vierzig, der als Geschichtslehrer an der Unesco-Gesamtschule Kamp-Lintfort am Niederrhein tätig ist. Umso wichtiger sei da der heutige Ausflug seiner 12. Klasse nach Ottersum an der niederländisch-deutschen Grenze bei Kleve, wo die Schüler an diesem stürmischen Apriltag bei einem internationalen Begegnungstag auf dem Landgut Roepaen auf Zeitzeugen treffen.

Während draußen heftige Hagelschauer auf die Felder hinter dem ehemaligen Kloster niedergehen und die Niers noch weiter anschwellen lassen, lauschen, verteilt über mehrere Räume der Begegnungsstätte, die Unesco-Schüler nebst 400 weiteren Jugendlichen aus Walsum, Moers und Gennep den anrührenden Lebensgeschichten ehemaliger Zwangsarbeiter. Etwa 30 Männer im Alter zwischen 78 und 83 Jahren sind auf Einladung der niederländisch-deutschen „Plattform Zwangsarbeit“ aus ganz Holland angereist, um Jugendliche von beiden Seite der Grenze mit konkreten Personen zu konfrontieren, die zur Zeit des Naziterrors Opfer von Deportation und Gewalt geworden sind.

Adriaan de Winter war 17, als ihn der Sicherheitsdienst (SD) im Frühjahr 1944 wegen Sabotageverdachts abholte, verhörte und folterte. Der heute 79-jährige Architekt, der am 14. Mai 1940 als Kind die Auslöschung seiner Heimatstadt Rotterdam mit ansehen musste, packt die Oberschüler der Anne-Frank-Gesamtschule Moers mit seinen Bildern aus der Vergangenheit mehr, als dies zehn Unterrichtsstunden je könnten. Die Wochen im KZ Amersfoort, der Abtransport im Viehwagen nach Deutschland, die Sklavenarbeit im Steinbruch, das Terrorregime der Wärter, schließlich Flucht und Heimkehr nach Holland – Sabrina Bittner hat bei de Winters Erzählungen „Gänsehaut bekommen“. Ein solches Treffen sei „wichtig, um Geschichte besser zu verstehen“, meint die zierliche 16-Jährige.

Genau darum geht es Adriaan de Winter. Ihm hätten die Nazis die Jugend gestohlen, wie auch seine erste Liebe, eine Rotterdamer Jüdin, die in Sobibor vergast worden sei. „Ich möchte mit meinen Vorträgen deutschen und holländischen Kindern beibringen, dass Krieg und Unterdrückung schlecht sind, dass wir Menschen anderer Kulturen anerkennen müssen“, sagt de Winter, der immer wieder offen und herzlich auf die Jungen und Mädchen in der Runde zugeht, links und rechts von ihm schon mal eine Schulter oder einen Arm berührt. Und betont, dass für ihn der Krieg nicht 1945 mit der Niederlage Deutschlands zu Ende gegangen sei, sondern erst 1949, als Holland auf Druck der Vereinten Nationen den Krieg gegen seine Kolonie in Südostasien aufgeben musste, der mehr als 100.000 Indonesiern den Tod gebracht hat. „Auch für diesen Krieg gab es keinerlei Rechtfertigung“, meint Adriaan de Winter.

Für Gerard Sonnemans ist der Austausch zwischen ehemaligen holländischen Zwangsarbeitern und deutschen Schülern „konkrete Versöhnungsarbeit“ – und eine gute Gelegenheit, den Geschichts- und Gesellschaftslehre-Unterricht in NRW nachhaltig zu beleben. Der Vorsitzende der „Stichting Deportatie 1944“, die bereits seit Mitte der 90er Jahre Kontakte zu Initiativen und Schulen in Walsum und Moers unterhält, bringt die Zwangsarbeiter in die Schule und macht sich mit seinen Mitstreitern der „Plattform Zwangsarbeit“ Gedanken, „wie wir das Thema jugendgerecht übersetzen können“. Mehr als eine halbe Million Niederländer sei zwischen 1943 und 1945 verschleppt und zur Arbeit gezwungen worden: in der Landwirtschaft, aber auch in der Rüstungsindustrie, verstreut über ganz Deutschland, so auch in den Duisburger Thyssen-Werken. „Da ist für Duisburger Schüler der Bezug eigentlich ganz klar“, meint der quirlige Koordinator der heutigen Begegnung.

Adriaan de Winter aus Rotterdam war 17 Jahre alt, als ihn der Sicherheitsdienst abholte, verhörte und folterte

Albert Poulissen hat seine Geschichte inzwischen an die 30 Mal erzählt, vor deutschen wie vor holländischen Schulklassen. Der 82-jährige untersetzte Mann mit der dunklen Sonnenbrille und den vielen Unterlagen wurde im Oktober 1944 bei einer Razzia in seinem Heimatdorf Helden verhaftet und nach Deutschland verschleppt. Ihn zwangen die Nazis bei Regen und Kälte zum Schanzen am Westwall zwischen Viersen und Aachen. „Ich verarbeite an Tagen wie diesen mein Kriegstrauma“, erklärt Poulissen, der in den letzten Monaten vor seiner Befreiung durch die US-Armee wiederholt von alliierten Tieffliegern beschossen wurde und Tote, Verletzte und schwarz verbrannte Menschen bergen musste. „Ich habe fast ein halbes Jahrhundert gebraucht, um ein halbwegs entspanntes Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen aufzubauen“, sagt Albert Poulissen und lächelt dabei seinen jungen Zuhörern aus Duisburg, Kamp-Lintfort und Moers freundlich zu. „Sagt es euren Opas, fordert sie auf zu erzählen, sonst werden sie ihr Trauma mit ins Grab nehmen.“

Hakan Karcekaya und Samet Peker würden zu Hause keine Antworten erhalten. Ihre Großväter haben vor mehr als sechzig Jahren keine fremden Länder überfallen. Die beiden 19-jährigen Schüler der Unesco-Gesamtschule Kamp-Lintfort finden das Treffen mit den Opfern trotzdem „super“. Auch sie hätten die Erzählungen der alten Männer emotional bewegt. Ihre deutschen Mitschüler jedoch hätte die Stunde mit „ihrem“ Zwangsarbeiter „richtig aufgewühlt“, sagt Samet, dessen T-Shirt das Konterfei von Che Guevara ziert.

„Die Deutschen haben begriffen, dass nur eine schonungslose Aufarbeitung der eigenen Geschichte ein Zusammenleben mit den Opfern von einst ermöglicht“, sagt Hakan, der noch in der Türkei eingeschult wurde und sich jetzt aufs deutsche Abitur vorbereitet. „Das kann man von der Türkei in der Frage des Völkermords an den Armeniern nicht gerade behaupten.“ Dieses Thema komme in deutschen Schulbüchern genauso wenig vor wie die Zwangsarbeit, bedauert sein Lehrer Andreas Kaiser. Das bleibe wohl Geschichts-AGs vorbehalten. Und Initiativen wie jener der Plattform Zwangsarbeit, die mit dem heutigen Treffen im Grenzgebiet den abstrakten Begriff „Krieg“ auf die Erfahrung konkreter Personen und in das Umfeld heutiger Jugendlicher zurückgeführt hat. www.zwangsarbeit.net